Weltwoche, Januar 2002 zurück zur Übersicht
Totenstille herrscht im Kinderzimmer
Beerdigung, Abdankungsfeier, Leichenmahl - Erwachsene haben für den Umgang mit dem Tod Rituale. Wie aber trauern Kinder? Die Geschichte des zwölfjährigen John, der seine Schwester verlor
Den Ort der verordneten Trauer hat John nur ein einziges Mal betreten. Es war, wie es immer ist auf einem Friedhof bei einer Beerdigung, wenn Erwachsene versuchen, ihren Schmerz durch überlieferte Rituale zu beherrschen. Der Pfarrer sprach, die Erde aus der kleinen Schaufel brach sich auf dem geschlossenen Sarg seiner Schwester Elisabeth. Ein halbes Jahr ist das her. Es war, wie man so sagt, eine schöne Beerdigung. Doch John hat sie vergessen. Es waren nicht seine Rituale.
John ist zwölf, ein Kind also, und damit die Leerstelle in der Trauerkultur. Kinder müssen sich dem Diktat der Erwachsenenwelt unterwerfen und schwarze Sachen anziehen. Sie sollen weinen, wenn die Erwachsenen weinen. Sie sollen sich beherrschen - was eben noch als goldiges Lachen galt, ist plötzlich respektloser Lärm. Im Leben werden Kinder bewundert, weil sie ihren Gefühlen folgen. Angesichts des Todes jedoch sollen sie zu Kopfmenschen mutieren. So fordern es die Erwachsenen, denn so sind sie selbst. Das gibt ihnen Sicherheit.
Trauernde Kinder dürfen nicht wie Kinder trauern. Ihnen ist kein schmerzstillender Ritus gestattet. In welcher Totenhalle etwa darf ein Knirps mit dem Dreirad um den verstorbenen Opa herumkurven und zum Abschied winken? Auf welchem Friedhof darf sich ein Teenager locker über den Sarg lehnen?
Auf Elisabeths Grab ist die Erde abgesackt, immer wieder sammelt sich Regenwasser zu glänzenden Pfützen. Dreimal hat Johns Mutter Erde nachgefüllt, weil in ihr das Grauen aufsteigt, wenn sie sich vorstellt, was mit dem Körper ihrer zehnjährigen Tochter passiert, dort unten, knapp zwei Meter unter dem Niveau des Friedhofsrasens. Jeden Tag um 15 Uhr steht Johns Mutter vor dem Grab, zündet die Kerze an. Ohne John. Wenn er an den Friedhof denkt, fühlt er Angst. Das Grab seiner Schwester ist ihm fremd.
«Ich habe mich damit abgefunden», sagt er. Dass ihm mit Elisabeth die kleine Schwester abhanden gekommen ist. Dass er mit seinen 13 Jahren jetzt wieder der Jüngste unter sechs Geschwistern ist, alles Buben. Dass er nicht mehr mit ihr an der Hand zur Schule gehen kann. Er weiss, dass er nie mehr sehen wird, wie Elisabeth auf ihrem Fahrrad losbraust, in wackligem Zickzack, aber so schnell, dass er sich sorgen würde, ob sie heil zurückkäme. Das ist vorbei. Das sagt ihm sein Verstand.
Er wird auch nie wieder reden können, abends, mit Elisabeth, in dem Bett in seinem Zimmer, wo sie jede Nacht gemeinsam verbrachten, sich Geheimnisse zuraunten oder gegenseitig erzählten, wie es denn so ist. Es wird nie wieder jemand da sein, der ihn zwingt, mit Barbie-Puppen zu spielen.
Er hat noch gesehen, wie sie am Vorabend ihres unaufhaltsamen Sterbens mit ihrem Fahrrad vom Hof den Berg hinabsauste. Elisabeth war sechs Jahre alt. Sie fuhr noch nicht sicher. Sie kam zurück, ging zu John ins Bett zum Schlafen. Sie redeten, wie jeden Abend. Um Mitternacht fing Elisabeth an zu spucken. Schlief wieder ein. Als Elisabeth am Morgen nicht aufwachte, lag John neben ihr. «Elisabeth», hörte er seine Mutter flüstern. «Elisabeth», hörte er sie laut rufen. «Elisabeth», gellte es schliesslich in seinen Ohren. Er sah, wie seine Mutter verzweifelt an der Schulter seiner Schwester rüttelte. Gegen zehn Uhr hob der Rettungshubschrauber von der Wiese vor dem Haus ab, mit Elisabeth in seinem Bauch.
Die Ärzte im Krankenhaus versetzten Johns Schwester sofort in ein künstliches Koma. Ihr Kopf war voller Blut, vom Tumor im Hirn, der aufgebrochen war am Abend zuvor, als sie stürzte bei ihrer letzten Fahrt mit dem ersten eigenen Fahrrad, das sie noch nicht benutzen durfte. Bei seinem ersten Besuch hat es John anfangs nicht ausgehalten in dem Zimmer mit den tickenden Apparaten und den Schläuchen an Elisabeths Fingern, an der Nase, am Mund. Nach fünf Minuten auf dem Krankenhausflur aber kam er zurück, setzte sich an Elisabeths Seite, nahm ihre linke Hand.
Drei Jahre lang ist John dann viel allein gewesen. Chemotherapie, Killerzellentherapie, Bestrahlungstherapie - jeden Morgen um 9 Uhr fuhr Elisabeth mit der Mutter in die Krebsklinik. Erst am späten Nachmittag kamen sie zurück. Mussten sie länger bleiben, holte John ihre Wäsche aus dem Krankenhaus und stopfte sie in die Waschmaschine. Zwischendurch Telefongespräche mit seiner Mutter, jeden Tag zur festen Zeit.
Zuneigung? «Es hat gereicht», sagt John wie ein Erwachsener. «Er hat wohl gelernt, viel mit sich selbst auszumachen», seufzt seine Mutter.
Drei Jahre lang hat John mitgekämpft gegen den Tod, der seine Schwester bedrohte. Als der Kampf verloren ging, holte die Mutter Elisabeth nach Hause. Sie setzte sich Johns Schmerz aus, und ihr Sohn ist froh, dass er damals Zeit für den Abschied zu Hause bekam. Diese Zeit ist ihm in guter Erinnerung. Seine Stimme wird weich beim Erzählen.
Ein Donnerstag war es, als seine Mutter sagte: «Elisabeth wird sterben.»
«Mir war, als würde mir ein Arm ausgerissen», erinnert sich John. Am selben Tag noch kam Elisabeth aus dem Krankenhaus zurück in sein Zimmer. John konnte im Bett mit ihr reden. Am Freitag wurde Elisabeth zu schwach zum Sprechen. Sie rollten ihr eine Matratze im Wohnzimmer aus, dort, wo auch die Eltern schlafen. John half beim Trinken mit einem Strohhalm. Er hielt ihre Hände und spürte, wenn sie «Ja» oder «Nein» drückte. Er hat viel geweint. Er wollte immer zu ihr. Am Samstag zogen sie Elisabeth das weisse Taufkleid an. Sie glaubten nicht an den Herrn, doch was ist schon sicher im Angesicht des Todes. Der Pfarrer kam und taufte das sterbende Kind. Elisabeth Maria.
Elisabeths letzte Stunden begannen am Dienstag um 10.30 Uhr. Sie lag auf dem Schoss ihrer Mutter. John hielt den linken Fuss seiner Schwester, vier Stunden lang. Elisabeths Atem setzte aus, immer wieder setzte sie an, sog schliesslich stockend Luft in die Lungenflügel. Um 14.30 Uhr wog der Fuss in Johns Hand plötzlich schwerer.
«Wir haben ihr den Tod gegönnt», sagt Johns Mutter.
«Da war ich noch trauriger als sonst», sagt John. «Sie lag so da, so ohne sich zu rücken.»
Nach Elisabeths Tod hat John ferngesehen. «Aladin und die Wunderlampe». Drei Tage lang blieb er in seinem Zimmer, lag auf dem Bettzeug, das er mit Elisabeth teilte. Er wollte nicht sprechen und freute sich doch, wenn jemand an die Tür klopfte, dem er nicht zu antworten brauchte. Elisabeth lag drei Tage lang aufgebahrt im Wohnzimmer. In diesen drei Tagen streichelte John manchmal Elisabeths Hand. Die Erinnerung daran ist schön und beruhigend. Sie sei wohl jetzt im Himmel, meint John, oder im Paradies. Vielleicht sei beides dasselbe. «Da oben braucht man sich bloss zu denken, was man will, und es ist da. Elisabeth ist wohl traurig, nicht bei uns zu sein.»
Elisabeth ist noch da. Im Wohnzimmer brennt eine Kerze. John passt auf, dass sie nicht erlischt. Wenn er in sein Zimmer geht, muss er das Zimmer seiner toten Schwester durchqueren. Auf dem Schreibtisch liegen noch die Stifte, wie Elisabeth sie hinterliess, an der Wand hängt der orangene Strohhut. Unter dem Doppelstockbett stehen unberührt ihre Schuhe. Wer staubsaugt, saugt um sie herum.
Seit dem Tod seiner Schwester spielt John mit Freunden oft Nintendo. Mario-Kart, wie früher mit Elisabeth, die immer die Rolle der Prinzessin übernahm. Heute ist das seine Rolle.
Mit Elisabeths Tod ist wieder Ruhe eingezogen ins Haus. Jeden Morgen um sieben Uhr öffnet die Mutter leise die Tür zu Johns Zimmer, in der linken Hand hält sie einen Becher Milch. Sie macht den Fernseher an, Knopf zwei. Da kommt «Schnauze», eine Serie, in der Hunde reden können. Sie bringt ihrem jüngsten Sohn Hose, Hemd und Socken, räumt das Bad auf. John hat sich schon beschwert, es ist ihm zu viel. Und doch geniesst er die Aufmerksamkeit. «Er war drei Jahre lang für mich da», sagt Johns Mutter. Sie weiss, sie will etwas gutmachen und auch ihr schlechtes Gewissen beruhigen.
Wenn abends im Fernsehen der Werbeblock läuft, steht John auf und kommt zum Kuscheln in die Küche. Das hat er früher nie getan. Vor dem Weg zur Schule holt er sich jetzt Mutters «Kussi». Er will mit seinen Brüdern essen oder in die Eisdiele. Auch das ist neu. Ein einziges Mal hat er etwas gesagt: «Sie fehlt ganz einfach.» In der Küchenecke stand er und weinte.
John sagt, er wolle keine Wunden aufreissen. Deshalb erzählt er seiner Mutter nichts von der Angst vor dem Friedhof, nichts von der Traurigkeit, die er dort fürchtet. Er spricht auch nicht von dem Schuldgefühl, das ihn befällt, wenn er an seine tote Schwester denkt. Er lasse sie allein, schämt er sich. Seine Mutter glaube, er sei darüber weg. Er weiss nicht, dass er sich irrt.
Er weine nur noch selten, sagt John, nicht mehr dreimal am Tag wie früher. Er meint, er kann nicht immer trauern, doch wenn er an Elisabeth denkt, kommen ihm Zweifel. «Neulich im Bett, es war so leise.» Das hat er seiner Mutter nicht gesagt. Seine Mutter weiss schon heute, dass er eines Tages von sich erzählen wird. Wenn er will, auch auf dem Friedhof.
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