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Du, Nr. 742, Dezember 2003                                                                                              zurück zur Übersicht

Neues Land liegt unter Wasser

Unterwasserhotels könnten bald exquisites Freizeit­vergnügen bieten, und im Meer sind ganze Städte geplant. Vorausgesetzt, die Investoren beissen an.

«Standard Island glitt ruhig durch die Gewässer des Stillen Ozeans, der seinem Namen zu dieser Jahreszeit alle Ehre machte. Trotz der gewaltigen Leistung, die die mehreren hundert Schiffsschrau­ben mit ihren zehn Millionen Pferdestärken ent­wickelten, ging kaum mehr als ein leichtes Zittern durch ihren metallenen Inselrumpf .. In keinem Zimmer auf Standard Island waren Tische oder Lampen angeschraubt. Wozu auch? Die Häuser von Paris, London oder New York standen auch nicht fester auf ihren Fundamenten. Standard Island war eine stählerne Insel.»            Jules Verne

Eine Traumstadt, von Menschenhand ge­schaffen, frei schwimmend über den uner­forschten Tiefen, immer der Sonne hinter­her, die Schönwetterzonen des Ozeans kreu­zend. Mit Kirchtürmen, die in den wolken­losen, frisch gewaschenen Himmel ragen. Mit Gärten, Strassen, Plätzen. Mit Cham­pagner, Ballkleidern und gut gefüllten Bü­cherregalen. So stellte sich Jules Verne die ideale Welt vor, als er 1895 „Die Propellerinsel“ schrieb. Es war eine Insel für die Reichen und Schönen. Die Vision eines Motoren­-Maniacs, dem mit Erdölbriketts und Elek­trizität alles möglich zu sein schien, und der seinen Kapitän Nemo Zigarren aus Algen rauchen liess.

Wie enthusiastisch Jules Verne glauben machte, der Mensch könne das Meer er­obern und sich zur Wohnstatt machen. Dabei war es reiner Luxus. Während der Schriftsteller aus purer Begeisterung Visio­nen für die Begüterten entwarf, versuchten Architekten nur wenige Jahrzehnte später ebenso enthusiastisch, mit der Besiedlung des Meeres das Problem der Überbevölke­rung zu lösen.

In den sechziger Jahren er­scheint die Welt planbar, und auf die Schreib­tische der Stadtentwickler und Architekten der Grossstädte flattern düstere Prognosen. Innerhalb von drei Jahrzehnten verdopple sich die Weltbevölkerung auf 8 Milliarden Menschen, die in die Städte drängten, in Asien wüchsen insbesondere die Hafenstäd­te an zu unbeherrschbaren, verschmutzten Megacities, in dichter, enger Höhe. Men­schen, Autos und Gebäude bedrängten sich gegenseitig bis zur Explosion des Schmelz­tiegels Stadt. Aber die Planer kennen einen Ausweg: Drei Viertel der Erde sind vom Meer bedeckt, viel unerschlossenes Gebiet. Und der Mensch ist eine Planzahl.

Als der japanische Architekt Kenzo Tan­ge 1959 aus seinem Bürofenster auf Tokio schaut, erblickt er das Chaos einer 15-Mil­lionen-Stadt, eingezwängt zwischen den Bergen und der Bucht von Tokio. Er sieht, wie flach und menschenleer die Bucht ist, nimmt Papier und Zeichenstift, skizziert Stadt und Bucht, und dann zieht er vom Stadtzentrum aus zwei schnurgerade Linien quer über das Wasser bis ans gegen­überliegende Ufer. Dies sollen 30 Kilometer lange Strassen werden, mit Stützen veran­kert auf dem Meeresgrund.

Zwischen die beiden Strassen zeichnet Tange Plattformen auf dem Wasser, für Hauptbahnhof, Hafen, Rathaus, zwanzig­stöckige Bürohäuser - das Zentrum des neuen Tokio. Mitten über die Bucht zieht Kenzo Tange quer zu den beiden Haupt­linien Striche: Anliegerstrassen zu den Wohnblöcken aus Beton, die wie riesige Zelte auf den Plattformen ruhen.

Ein Jahr später stellt Tange seinen Plan für Tokio der Öffentlichkeit vor. Es ist der erste Entwurf für eine richtige Stadt auf dem Meer, und er vergrössert Tokio auf das Doppelte. Bis zu fünf Millionen Menschen soll sie aufnehmen können. Die geschätz­ten Baukosten betragen für die nächsten zwanzigJahre 83 Milliarden Dollar.

Die Fachwelt jubelt, aber Tanges Vor­schlag verschwindet bald wieder in der Schublade. Die Jagd auf den neuen Lebens­raum hingegen ist eröffnet. Und passt der Mensch nicht ins Konzept, wird er kurzer­hand den Gegebenheiten des Meeres ange­passt. Der französische Taucher und Mee­resforscher Jacques Cousteau baut 1962 vor Frankreichs Küste mit der Precontinent I das erste Unterwasserhaus, aus Stahl, mit fünf Zimmern. Für eine Woche schickt er zwei Taucher in zehn Meter Tiefe. Im Jahr 2000, fantasiert Cousteau daraufhin, wür­den die Menschen dank künstlicher Kie­men in unterseeischen Städten leben. «Da­mit der Mensch dem Druck in grossen Tie­fen standhalten kann, müsste man ihm die Lungen entfernen», meint Cousteau, «sei­nem Blutgefässsystem müsste eine Patrone eingesetzt werden, die das Blut chemisch mit Sauerstoff speist und das Kohlendioxid daraus entfernt.» Die ersten Versuche an Menschen sollen im Jahr 1980 beginnen. Immer im Hinblick auf die Jahrtausend­wende, die als magisches Datum gilt, an dem sich der Mensch vom Festland verab­schiedet.

Doch nicht nur Fantasten und Spinner glauben an die Zukunft auf und im Meer. Das Meer lockt auch Kapitalisten an. Als der britische Architekt HaI Moggridge 1968 erstmals mit den Managern des Glaskon­zerns Pilkington Brothers spricht, wird schnell klar: Es geht um Geld. Moggridge soll eine Stadt auf dem Meer entwerfen, ein Traumhabitat für 30000 kaufkräftige Menschen, mit ungetrübter Aussicht auf sich kräuselnde Wellen durch viel Glas. Die Pilkington Brothers wollen die flachen Schelfmeere vor den Küsten besiedeln. Statt ins Grüne sollen die Menschen aufs Blaue ziehen. Meeresvilla statt Landhaus. Hauptsache, es sind genug Fenster drin.

Der Architekt Moggridge plant seine Sea City etwa 24 Kilometer vor der englischen Ostküste bei Great Yarmouth, auf dem neun Meter tiefen Haisborough Tail. Er konstruiert eine künstliche Lagune, einge­schlossen von einem sich ringelnden Wall aus Glas, Stahl und Beton, 50 Meter hoch, kilometerlang. Der Wall erhebt sich wie ein 16-stöckiges Amphitheater auf einer Viel­zahl von Stelzen aus den Wellen. In seinem windgeschützten Innern bringt Moggridge die Wohnungen unter, alle mit Garten und einer Glasfront zur Lagune hin. Ergänzt wird die Siedlung durch ein Krankenhaus und, auf der windabgewandten Seite, ein Krematorium. Via Unterseekabel schliesst Moggridge die Bewohner ans britische Fern­seh- und Fernmeldesystem an, und auf dem Dach des Gaskraftwerks spielen die Kin­der Fussball - bis der Ball ins Wasser fällt. Mittels der Abwärme des Kraftwerks hei­zen die Bewohner ihre Lagune auf Bade­temperatur. Sie beten in sechs Kirchen, essen in vierzehn Restaurants, vergnügen sich in zwei Theatern und einem Kino, während die Pubertierenden in acht Jugendzentren Billard spielen oder flippern.

In der Lagune von Sea City treiben drei­eckige Inseln aus Beton und Kunststoff, höchstens drei Stockwerke hoch, für Kin­dergärten, Schulen, Bibliotheken. In vier Metern Höhe spannen sich Fusswege über die Lagune, für diejenigen, die das Wasser­taxi nicht nutzen möchten. Im Yachthafen dümpeln Freizeitboote und Luftkissenfäh­ren, die hinüber nach Great Yarmouth pen­deln, wo die Sea Citizens arbeiten, sofern sie keine Lust haben auf die städtische Fisch­farm oder die Frischwasseranlage.
Moggridge entwirft ein Paradies für Landflüchtlinge, fernab von Kriminalität, Umweltverschmutzung, Lärm und Auto­verkehr. Die jungen Idealfamilien fahren mit Elektrobooten oder gehen zu Fuss. Da­mit das Paradies nicht eine riesige Nord­seewelle wegspült oder das Wasser der La­gune ins Wohnzimmer schwappt, liegen als Wellenbrecher rund um ihr Glashaus draussen auf dem Meer 1,8 Meter hohe und 30 Meter lange, tonnenförmige Gewebe­würste. Bis im Jahr 2000, so hofft Architekt Moggridge damals, könne die Utopie Sea City bewohnte Realität werden. Doch er macht seine Rechnung ohne die Pilkington Brothers. Seinen Auftraggebern ist das Pro­jekt dann doch zu gewagt.

Die Sehnsucht nach dem Wasser bleibt: «Der Schwebezustand im Wasser ist ein dy­namisches Geschehen; es wird dem Men­schen dabei ein Gefühl der Schwerelosig­keit vermittelt», schwärmt der Schweizer Architekt Justus Dahinden. Die Witterung auf dem Meer sei konstant und die Zahl der Sonnenstunden grösser als auf dem Kon­tinent. Schädliche Dunstglocken verflüch­tigten sich schneller und Wasserstrassen müsse man nicht extra verlegen.

Trotzdem bleibt das Meer als Lebens­raum eine fantastische Vorstellung. Fremd ist es. Es rinnt durch die Finger. Man kann keinen Spaziergang zum Nachbarn auf ihm machen. In der Tiefe zerquetscht es den Menschen, nach ein paar Minuten ohne Luftzufuhr tötet es ihn. Es brüllt und rollt, ist unberechenbar. Es trägt keinen Stein und droht, jede menschliche Konstruktion mit seiner Kraft zu zerschlagen.
Aber der Mensch träumt von einer besse­ren Welt, von einem Neuanfang. Der Insel­traum währt bis heute. Und wo sonst sollte es liegen, dieses wohlhabende, soziale, um­weltschonende, schlichtweg ideale Utopia, wenn nicht dort, wo noch kein Mensch ist? Fernab vom Land also. Zum Beispiel im In­dischen Ozean, auf halbem Weg zwischen den Seychellen und Madagaskar, auf der Saya-de-Malha-Bank, auf Position 9 Grad 12 Minuten Süd, 60 Grad 21 Minuten Ost. Hier lässt derzeit der deutsche Architekt Wolf Hilbertz seine Trauminsel Autopia aus dem Meer wachsen.

Hilbertz will kein Geld verdienen, er sucht die Harmonie mit der Natur. Er stellt sich nicht gegen die Kraft des Meeres, er nutzt sie aus. Wolf Hilbertz wandelt Wasser zu Stein. Dafür versenkt er Stahlgerüste im Meer, durch die schwacher Strom fliesst. Durch Elektrolyse spaltet sich das Meerwasser in seine Bestandteile auf. Am Minuspol la­gern sich die im Wasser gelösten Minera­lien ab, Kalziumkarbonat und Magnesi­umhydroxid.

So entsteht der Stein, den Hilbertz «Biorock» nennt. Ein normaler Kalkstein mit bis zu 300 Kilogramm Trag­kraft pro Quadratzentimeter, so viel wie handelsüblicher Leichtbeton. Hilbertz, der Biologe unter den Architekten, schaute sich seine Methode von den Korallen ab, die ebenfalls die Kraft der Elektrizität nutzen. 1974 sitzt er in Scholzes Biergarten im ame­rikanischen Austin, als ihm die Idee ein­fällt. «Im Meer ist doch alles vorhanden, also sollten wir mit Meerwasser bauen», so denkt Hilbertz. Schier unerschöpflich scheint ihm das Baumaterial, denn die weltweit rund 1,4 Milliarden Kubikkilome­ter Meerwasser enthalten 55 Billiarden Tonnen Salze, die zu Stein verwandelt gutes, umweltgerechtes Baumaterial abge­ben. Über zwei Jahrzehnte tüftelt Hilbertz an seiner Methode, testet Wasser, Solaran­lagen und Stromstärken. Dann beschliesst er, eine Insel zu erschaffen, sein Autopia, ei­ne spiralförmige Insel aus Kalkstein, mit ei­nem Hafen in der Mitte. Über 50000 Men­schen sollen auf diesem Kalksteinwall le­ben. Windräder und Solaranlagen versor­gen dieAutopianer mit Energie. Fische und Meeresfrüchte aus eigenen Farmen ernäh­ren sie. Auf vorgelagerten Kalksteininseln wachsen Kokospalmen. Die Meeresbewoh­ner sammeln Regenwasser und gewinnen aus ihren Fäkalien energiereiche Faulgase. Sie leben Hilbertz' Traum vom nachhalti­gen Leben.

Hilbertz studiert Seekarten und findet schliesslich die nur neun Meter tief liegen­de Saya-de-Malha-Bank, mitten in einem besonders salzhaItigen Meeresgebiet. 1997 chartert er eine Segelyacht, zieht den Tau­cheranzug an, sinkt auf den Meeresgrund, wo er eine drei Meter hohe Pyramide aus armdicken Stahlrohren verankert. Ein So­larfloss schickt 1000 Watt Strom durch das Metall. Autopia beginnt zu wachsen. Bis zu acht Zentimeter dicker, weisser Kalkstein soll sich pro Jahr am Stahl festsetzen, ver­wachsen mit dem natürlichen Korallenstock und schliesslich die Meeresoberflä­che durchstossen. Als Hilbertz im Frühjahr 2002 zum ersten Mal seine Baustelle im In­dischen Ozean besucht, wird er jedoch ent­täuscht. Ein Sturm hat das Floss schon kurz nach seiner Verankerung weggerissen. Die Kalksteinschicht auf dem Stahlfundament seiner Autopia ist nur einen Zentimeter dick gewachsen. Doch Hilbertz lässt sich nicht entmutigen und verankert geduldig ein neues Solarfloss. Er kann sich diesen Luxus leisten.

Nicht so der deutsche Architekt Mein­hard von Gerkan, der dem Chinesischen Meer derzeit aus Platzmangel eine neue Stadt für 300000 Menschen abgewinnen will. Für ihn ist die Eroberung des Meeres eine Frage der Zeit. In China glaubt man noch an Planung im grossen Stil. Meinhard von Gerkan steht in der Rotunde seines weissen Bürohauses an der noblen Ham­burger Elbchaussee und schaut über die EI­be hin zum Containerhafen. Von Gerkan ist ein Macher, ein Grossarchitekt mit über 300 Mitarbeitern. Und er liebt das Wasser: die EIbe mit ihrem Strand oder die Alster, diesen See mitten in seiner Stadt Hamburg. Dieses Gefühl von Weite, die Kühle auf der Haut beim Schwimmen, die Leichtigkeit des eigenen Körpers: «Wasser ist ein Spiel­zeug», sagt er, «es macht Spass.» Deshalb integriert von Gerkan das Wasser in Luchao Harbour City, der neuen Küsten­stadt 60 Kilometer entfernt von Shanghai. Entworfen hat er sie im Auftrag der Shang­haier Stadtregierung. Shanghai mit seinen 13 Millionen Einwohnern quillt über, des­halb sollen 2005 bereits 80000 Menschen in Luchao leben.

Von Gerkan rückt das hölzerne Modell von Luchao Harbour City in die Mitte des Tisches. «Hier», sagt er, und seine Hand streicht durch die Mitte der Stadt, «hier verlief die Küste.» In nur zwei Jahren schüt­teten die Chinesen das bis zu drei Meter tie­fe Meer mit Erde und Sand zu und bauten gegen das Wasser einen acht Meter hohen Deich zum Schutz vor den Wellen der Tai­fune. Das dem Meer abgetrotzte Land wird bebaut. Luchaos künftige Bewohner kön­nen das Meer zwar nicht sehen, doch sie le­ben mitten in ihm, genauer gesagt auf dem Meeresgrund.

Im Zentrum der neuen Stadt wird ein Loch von 2,5 Kilometer Durchmesser aus­gespart. «Das ist der Meeresboden», erklärt von Gerkan, «den haben wir nicht zuge­schüttet.» Es ist der künftige See Luchao. Die Stadt wird kein dicht bebautes Zen­trum haben, sondern einen riesigen Frei­raum, schäumend, rauschend, voller Bewe­gung, mit einem breiten Sand band ringsum. «Wie an der Copacabana», freut sich der Architekt. In der Mitte des Sees soll eine 300 Meter hohe Wolkennadel aus filigra­nem Stahl Wasser versprühen und eine Wolke erzeugen. Rund um die chinesische Strandidylle legen sich ringförmig Büro-, Wohnquartiere und Parks. Gewundene Wasserkanäle durchziehen dann die ge­samte Stadt. Das Wasser fliesst in schmalen Bächen und Flüssen vom Marschland auf dem Weg zum Meer künftig durch von Gerkans Mus­terstadt. Es füllt Kanäle und den Luchao-­See, bevor es sich auf der anderen Seite der Stadt durch ein Sperrwerk ins nun kleiner gewordene Meer wälzt.

Spätestens 2020 soll die neue Stadt fer­tig sein. Chinesische Investoren stehen Schlange. Von Gerkan lehnt sich locker zu­rück auf seinem schwarzen Freischwinger. Seine Stadt wird keine Utopie bleiben, er wird das Meer wirklich bebauen. «Ich will, dass sich der Mensch wohl fühlt», sagt der Architekt, «das relativiert dann den Begriff Utopie. Welchen Sinn sollte es etwa ma­chen, unter Wasser zu leben, wenn man am Strand mit einem Glas Rotwein sitzen kann?»

Eine Antwort auf diese Frage findet sich gut zwei Stunden Zugfahrt südlich von Hamburg, in Münster-Wolbeck, mitten auf dem platten deutschen Land, in einem klei­nen Haus aus rotem Backstein, das umge­ben ist von Stoppelfeldern bis zum Hori­zont. Hier bastelt der Industriedesigner Dirk Schumann an der menschlichen Zu­kunft unterm Meeresspiegel. Er ist kein Wel­tenbauer und seine Antwort simpel: «Die Unterwasserwelt ist so fantastisch, die muss jeder erleben.» Schumann spricht schnell, unterbricht sich selbst, bestätigt sich immer wieder mit einem flüchtigen «ja, ja». In seinem Auto liegen Kajakpaddel. Tagsüber entwirft er Wasserboiler und Badezimmer­spiegel. Nach Feierabend taucht er ab, zu­mindest in Gedanken, mit Palinurus, einem Mittelding aus Tauchboot und Aussichts­plattform: zehn Meter lang, sechs Meter breit, mit Gold prämiert auf der Interna­tional Design Exhibition Osaka 1997. Noch ist Palinurus ein Entwurf.

Bestehend aus drei Ebenen, ganz oben das Sonnendeck, im Wohnbereich darun­ter finden zwei Menschen und eine Koch­gelegenheit Platz. Durch einen Sehschlitz können die Bewohner das Leben unter Was­ser beobachten. Der Clou des Palinurus je­doch liegt darunter: Eine von oben her zu betretende Kugel aus bruchfestem Glas, vier Meter unterm Meeresspiegel. Von dort kann man den Fischen ins Maul schauen.

«Das wirkt so, als ob gar nichts mehr zwi­schen Mensch und Meer wäre», schwärmt Dirk Schumann. Seit zweiundzwanzig Jahren taucht er, schon viel länger träumt er vom Leben un­ter Wasser. Mit vierzehn Jahren schwimmt er mit einer durchsichtigen Plastikfolie vier Meter hinab auf den Grund eines geflute­ten Steinbruchs bei Soest, vorbei an ver­sunkenen Werkstatthütten und scharfen Felsvorsprüngen. Auf der Unterwasserwie­se breitet er seine Plane aus, beschwert sie mit Steinen. Er lässt Sauerstoff aus einer Taucherflasche unter die Folie und stellt sich vor, hinterherkriechen zu können und die gefangene Luft zu atmen: «Ich möchte schauen, schauen, schauen.» Stundenlang, ohne auf den Sauerstoffvorrat einer Tau­cherausrüstung zu denken, auf «Fische, gross wie Kleintransporter, auf Schwärme, gross wie Wolken». Als Schumann 1997 sei­nen Palinurus vorstellt, bekommt er Anfragen aus der Tourismusbranche des Nahen Ostens. Die Bundesmarine fragt an, ob sich Palinurus zum Minenräumen eignet. Geld für einen Prototyp will jedoch niemand ge­ben. Schliesslich entwickelt Schumann 2001 Kamar, sein aktuelles Projekt, das gedacht ist fürs Leben in den klaren, flachen Gewäs­sern nahe der Küste, mit einer tropischen Unterwasserwelt. Von oben betrachtet ist Kamar eine 60 Meter lange, ovale, schwim­mende Plattform auf der Meeresoberflä­che. Bis zu zehn Einfamilienhäuser finden darauf Platz, deren untere Stockwerke ku­gelförmig ins Meer reichen. Die Plattform ist im Meeresboden fest verankert durch ein begehbares Fundament. Ein Hebelsys­tem gleicht die Gezeiten aus. «Das Wohnen auf Kamar», verspricht Dirk Schumann, «ist ein nachhaltiges Erlebnis.» Ob wirklich einmal Menschen auf Ka­mar ihre amphibische Existenz aufneh­men werden? Wieder haben arabische Tou­ristiker bei Schumann angefragt, doch er­neut wollen sie kein Geld für die weitere Entwicklung vorschiessen.

Ausgeträumt scheinen die wilden Unter­wasserträume der sechziger Jahre, als alles machbar erschien und allein schon deshalb gut. Die britischen Architektur-Revoluz­zer der Gruppe Archigram projektierten 1964 eine molekülartige Unterwasserstadt aus Röhren und Wohnkugeln. Der Japaner Kiyonori Kikutake fantasierte von einer kreisrunden Meeresstadt, einer schwim­menden Betonplatte mit einem Durchmes­ser von mehreren hundert Metern, und ein­gelassenen Stahlzylindern, die 30 Meter tief ins Meer ragten. Im Innern dieser Röh­re sollten die Ozeansiedler wohnen und ar­beiten.

Jetzt hat Archigram-Gründer Peter Cook das Grazer Kunsthaus gebaut, mitten in der Stadt, als eine gewaltige blaue Blase mit trompetenartigen Oberlichtern. Und Kiku­take wirbt vergeblich für seine Linear Ma­rine City, ein 800 Kilometer langes Band von Flughäfen auf künstlichen Inseln zwi­schen Tokio und Kyushu.

Einer der letzten Verteidiger der Unter­wasserwelt arbeitet in Paris, Peniche Saint Paul, Port des Champs-Elysees, auf einem al­ten, schwarzen Binnenschiff. Der Franzose Jacques Rougerie will ein Teil des Wassers werden, das bestimmt seine Architektur: «Eine einfache Blase, eine kleine Luftperle, die dem Druck standhält und alle Formen annehmen kann, ist Inspiration und per­fektes Modell.» Als Kind hat er Jules Verne gelesen. Für Rougerie stellt sich nicht die Frage, warum man unter Wasser leben soll­te: «Das entspricht einer tiefen Sehnsucht im Menschen.»

Seit gut 25 Jahren baut er an seiner Vi­sion. 1977 versenkt er auf der Meeresaus­stellung in Osaka die Galathee, sein ers­tes Unterwasserhaus. Ein sieben Meter lan­ges, fischig-blasenförmiges Ding aus Stahl und transparentem Kunststoff, das bis zu 45 Meter tief tauchen kann. Fünf Men­schen könnten darin bis zu drei Monate autonom ausharren, verspricht der Archi­tekt. Im September 1981 schickt er vor Kor­sika zwölf Kinder für eine Woche drei Me­ter unter Wasser in sein Kunststoffkugel­agglomerat Aquabulle. Jedem seine Blase.

Bis heute baut Rougerie immer wieder bootartige Lebensräume und entwirft or­ganische Wohninseln für die bunten Atolle dieser welt. In den nächsten fünfzig Jahren werde es die ersten Unterwasserdörfer ge­ben, sagt er voraus. Im Auftrag der Uni­versität Hawaii hat er quallenförmige Mehr­familienhäuser aus Eisenzement entwor­fen in bis zu 40 Metern Tiefe. Der Futurist Jacques Rougerie sitzt in seinem Hausboot im grauen Paris und denkt an die bessere Zukunft im blauen Meer.

Doch bereits jetzt beginnt im Persischen Golf die lichte Zukunft. In Dubai wollen die Ölscheichs ihr Geld anlegen, und wenn alles gut geht, wird der deutsche Designer Joachim Hauser ab 2006 als Erster die Men­schen unter Wasser in sein Luxushotel Hy­dropolis führen. In 15 Metern Tiefe auf den Meeresboden gebaut, 500 Meter vor dem Strand der künstlichen Insel Jumeirah. Das erste Unterwasserhotel der Welt, Baube­ginn noch 2003, 520 Millionen Euro teuer, dreihundert Zimmer hinter 18 Zentimeter dickem Plexiglas extra mit Fischen und Ko­rallen drum herum, wartet auf Gäste ohne Wasserscheu.

Sofern die Scheichs nicht doch noch nas­se Füsse kriegen.

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