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Weltwoche, Oktober 2003                                                                                                zurück zur Übersicht

Der Satan muss getötet werden

Peter Merkel ist schizophren. Jahrelang quälen ihn Stimmen in seinem Kopf. Bis er eines Tages seinen Vater erschlägt.


Als Peter Merkel* seinen Vater am 18. Januar 2000 um 16.19 Uhr auf dem Hof des elterlichen Tiefbauunternehmens mit einem Besenstiel niederstreckt und ihm anschliessend mit einem Pflasterstein mit neun kräftigen Hieben den Schädel einschlägt, spürt er ein Gefühl tiefster Befriedigung. «Jesus», ruft er, zwei mittlere Baguettes im Bauch, «ich bin Jesus Christus», und in seinem Kopf jubelt der Papst, denn Jesus Christus hat soeben den Satan getötet.

Warm strömt das Glücksgefühl in diesem Moment durch Peter Merkels Körper. Er will seine Sache richtig machen. Er lässt keinen der aufgeschreckten Tiefbauarbeiter an den Blutenden heran, der Seelenwanderung wegen. Er stürmt die Treppe hinauf in den ersten Stock ins Büro, reisst Telefon- und Computerverbindungen aus der Wand.

Er lächelt, als ihn die Polizisten um 17.05 Uhr verhaften auf dem matschig-braunen Acker, 400 Meter entfernt von dem Ort, an dem er, wie er meint, die Menschheit vom Bösen befreit hat. Er glaubt, nein, er weiss ganz bestimmt, dass er das Richtige getan hat. Er weiss in diesem Moment nicht, dass nicht er es ist, der da glaubt und Bescheid weiss.

Langsam entgleitet das Leben

In diesem Moment hat der Wahn vollständig Besitz ergriffen von ihm. Die Kakofonie aus Stimmen und Gedanken ist endgültig aus seinem Kopf gedrungen, hinein in die wirkliche Welt, wo sie sich niederschlägt in Form eines 48-jährigen Toten mit dem Gesicht im Strassendreck und eines 27-jährigen Sohnes, der zum Mörder wurde, doch dessen Kopf erfüllt ist von ungekannter, lang ersehnter Stille.

Peter Merkel ist schizophren, wahnkrank. Er ist im Laufe mehrerer Jahre abgedriftet in eine Welt, die zuerst eine Parallelwelt war zur Realität, bis sie zur einzigen Welt wurde, die erst mit dem Tod des Vaters ihr Ende fand. Peter Merkel erlebte eine Welt, die es nur in seinem Kopf gibt. Eine Welt, die aufregend ist und zugleich furchtbare Angst macht, die ihn erfüllt und ebenso verwirrt, die er in klaren Momenten vergeblich versucht zu verstehen und zu lenken, an der er verzweifelt und der er zuweilen zu entfliehen versucht.

Doch es ist eine Welt, aus der er nicht flüchten kann. Diese Welt saugt den Menschen immer mehr in sich hinein wie in ein schwarzes Loch, in dem er zu verschwinden droht, um vollständig zur Marionette seiner Krankheit zu werden.

Schizophrene leiden etwa unter Verfolgungswahn, Eifersuchtswahn, oder sie können den Gedanken nicht abschütteln, sie würden unweigerlich verarmen oder erkranken. Was sie sehen, riechen, schmecken und hören, wird unweigerlich zum Beweis umgedeutet. Auch wenn es gar nicht existiert. Die Ursachen der Schizophrenie sind nicht eindeutig geklärt. Stress kann eine Rolle spielen oder die Veranlagung. Drogen wirken förderlich. Etwa ein Prozent der Menschen wird schizophren. Chronisch oder auch nur ein einziges Mal. In der Schweiz sind das rund 70000 Betroffene. Fast jeder zehnte Schizophrene bringt sich irgendwann um. Richtet sich die Gewalt nach aussen, vermelden kurze Zeitungsnotizen, dass mal wieder ein «psychisch Kranker» zugeschlagen hat. Einer wie Peter Merkel, dem am Ende keine andere Wahl blieb.

Drei Jahre nachdem er im religiösen Wahn seinen Vater getötet hat, lebt Merkel «schuldunfähig» in einer forensischen Klinik am Rand einer mittelgrossen deutschen Stadt. Er trägt Schwarz am 1,75 Meter grossen und 105 Kilogramm schweren Körper, auch Zopf und Kinnbart sind schwarz. Sein Gesicht ist rund, drei silberne Ringe zieren die Ohren, zwei die Augenbrauen, einer die Nase. Er ist 29 Jahre alt.

Drei Jahre nach der Tat sagt der Vatermör-der: «Es ist schwer zu begreifen, dass ich zu der Sache fähig war.» Diese Sache, dieses Töten, sei ihm «passiert». Trotzdem fühle er sich schuldig. Seine Stimme klingt fest, er spricht ohne Stocken. Er hat längst aufgehört, sich nach dem «Warum» zu fragen. Es gibt keine schlüssige Antwort. Die tägliche Dosis des Psychopharmakons Leponex verdrängt den Wahn mit seinen Stimmen aus dem Kopf, legt die eigenen Gedanken frei. Und die Erinnerungen an die Zeit, als sein Ich ein anderer war: «Das war wie ein anderes Leben.» Er wirkt gefasst, manchmal lächelt er. Die Hände kneten.

Peter Merkel ist 22 Jahre alt, als ihm das Leben schleichend aus den Händen zu gleiten beginnt. Seit einem halben Jahr arbeitet der gelernte Bauarbeiter täglich von 6 bis 19 Uhr im elterlichen Betrieb am Ende des Dorfes, als er im Frühherbst 1995 das erste Mal glaubt, sein Vater beobachte ihn durch ein Fernglas, ihn, der «zu weich» ist, um den Angestellten Befehle zu erteilen, der sich unsicher fühlt deswegen. Peter Merkel schaut sich suchend um und kann doch nichts entdecken. Ein paar Tage später kommt das Gefühl wieder. Und wieder. Und wieder.

Er zieht sich zurück in seine Wohnung gegenüber dem Elternwohnhaus. Drei Zimmer, Küche, Bad, die Decke holzvertäfelt, mit einer Schrankwand aus Eschenholz. Das Laminat im Wohnzimmer hat er selbst verlegt. Dort sitzt er auf der blauen Eckcouch, als die Stimmen einsetzen «wie ein Hammer».

Es ist Abend, Merkel hört eine Platte von Status Quo, als die Stimme des Vaters ihn auffordert: «Übersetz die Texte, sie sind gut.» Andere Stimmen fallen ein in seinen Kopf, sagen: «Leg endlich eine andere Platte auf.» Es sind die Stimmen seiner Freunde, die er schon aus Schule und Lehrzeit kennt, es klingt wie ein Telefongespräch ohne Telefon. «Hör nicht auf die», antwortet der Vater in Merkels Schädel. Merkel kommt das lediglich seltsam vor. Es macht ihn ein wenig nervös.

«Guten Morgen, wie geht's denn so?»<

Die Stimmen mehren sich und nehmen immer mehr vom Alltag in Beschlag. Peter Merkel geht nur noch unregelmässig zur Arbeit, schliesslich lässt er es ganz sein. Zu sehr lenken ihn die Gespräche mit den Stimmen seiner Freunde ab. Er hört auf, diese Freunde zu besuchen. Er hört sie inzwischen ja jeden Tag in seinem Kopf. Jetzt ist er mit ihren Stimmen allein. Und die Menschen, die er zufällig trifft, reihen sich als imaginäre Stimmen in die Runde ein.

Sein Kopf wird zum Konferenzraum. Das Thema: Peter Merkel. Wenn er aufsteht, fragen die Stimmen: «Guten Morgen, Peter, wie geht's denn so?» Putzt er sich die Zähne, verlangen sie: «Putz lieber zweimal, das ist besser.» Sie kommentieren alles, was er tut, erst hin und wieder, dann ohne Unterlass. «Immer und überall», erinnert sich Merkel heute. Die Stimmen bereden mit ihm und auch untereinander, wie «der Peter sich denn so macht». Peter Merkel kommt nie auf den Gedanken, er sei krank: «Das waren doch meine Freunde.» Er spricht mit niemandem darüber, nicht mit den Freunden, die als Stimmen zu ihm sprechen, nicht mit den anderen Freunden, nicht mit den Eltern. Er glaubt, es sei ein Geheimnis, dessen Nutzen er nur noch nicht erkennt.

Merkel ist damals noch nicht vollständig in seine Wahnwelt abgedriftet. Er geht einkaufen und aufs Sozialamt, er besucht seine Eltern zum Essen und versucht sich sporadisch als Diskjockey in den umliegenden Orten. Er entwirft Flyers und kauft Platten. Er lässt sich nichts anmerken, laut spricht er mit seinen Stimmen nur zu Hause. Er ist keine gespaltene Persönlichkeit, doch seine Welt teilt sich auf in die reale und in die, die nur er wahrnehmen kann. Die Welt der Stimmen gesellt sich zur Realität einfach hinzu. Noch gelingt es ihm, beide Welten auseinander zu halten. Nur langsam lässt seine Konzentrationsfähigkeit nach, verschlechtert sich seine Laune, wird er misstrauisch gegenüber anderen Menschen. Werden sie als Nächste in seinem Kopf Unruhe stiften?

Die Stimmen rauben ihm zunehmend den Schlaf. Sie spielen mit ihm, er fühlt sich «wie auf einem Monitor». Er fragt sich jeden zweiten Tag: «Warum?» Merkel raucht Haschisch, um Ruhe zu finden, eine Menge, die die psychiatrischen Gutachter nach seiner Tat als nicht ursächlich bewerten.

Ein Chip im Kopf

Drei Monate nachdem die Stimmen in seinen Kopf gekommen sind, hält er es zum ersten Mal nicht mehr aus und schmeisst seine Frühstücksteller an die Wand. Er brüllt die imaginären Freunde an: «Wollt ihr mich verarschen, dass ihr mich so foltert?» Er hat einen Tag Ruhe. Am Tag darauf hört er die Stimmen lachen: «Habt ihr gesehen, wie der ausgerastet ist?» Merkels Eltern hören sein Toben. Sie glauben, ihr Sohn könne die Trennung von seiner Freundin nicht verwinden, die ihn Monate zuvor ohne Begründung verlassen hat.

Auch für Merkel wird die ehemalige Freundin zur Erklärung. Fünf Jahre liebten sie sich, ein halbes Jahr lebten sie gemeinsam in seiner Wohnung auf dem Hof gegenüber dem Elternhaus, bis zum Frühjahr 1995. «Eine Traumfrau», meint Merkel noch heute. Blond, schön, loyal. Bei einem Maifest hat er sie mit sechzehn das erste Mal geküsst. Mit ihr ist er zu Rockkonzerten gefahren. Sie stand am Spielfeldrand, als er an den Wochenenden in der Jugendauswahl Fussball spielte, Stürmer rechts aussen. Merkel sagt, er sei gegenüber der Freundin auch mal laut geworden.

Als sich in Merkels Welt der Stimmen zum ersten Mal die ehemalige Freundin meldet, konstruiert er sich die lang ersehnte Erklärung für das zunehmende Chaos in seinem Kopf. Sie reden über das Kinoprogramm. Er hört sie sagen: «Ich liebe dich.» Für ihn ist alles echt und alles klar: Es ist ein Test. Die Stimmen, also seine Freunde, sollen «sticheln», sollen ihn ärgern, «die Reizschwelle erhöhen». Er soll lernen, mit Aggressionen besser umzugehen, er soll «eine dicke Haut bekommen». Plötzlich ergibt es einen Sinn, dass er nicht mehr arbeitet, kaum das Haus verlässt, Stunden um Stunden auf dem blauen Ecksofa hockt und den Stimmen ausgeliefert ist, die es längst unmöglich machen, dass er einen Film im Fernsehen bis zum Ende anschaut, weil sie ihm immer dazwischenreden. «Sie schicken mich nach Hause, damit ich eine Art Lehre mache und ein besserer Mensch werde. Sie will mich wieder, aber ich muss mich ändern», denkt sich Merkel auf der Couch. Freude erfüllt ihn. Er ist bereit, die Strapazen auf sich zu nehmen. Er lächelt.

Ab diesem Zeitpunkt tauscht Merkel seine Erklärungsnot endgültig ein gegen den für Schizophrene so typischen Erklärungszwang, der die reale Welt in seinem inneren Kosmos immer weiter einschränkt, bis sie vollständig implodiert.

Er will jetzt wissen, wie die Stimmen Kontrolle über sein Leben erlangen. Als er eines Morgens mit Druck im Kopf aufwacht denkt er: «Die haben mir einen Chip in den Kopf gesetzt, damit ich ihre Stimmen hören kann.» Er sucht den Fernseher, die Steckdosen, die Lampen ab nach versteckten Kameras, denn «irgendwie müssen die doch sehen, was ich tue». Dass er nichts findet, erscheint ihm nur «seltsam». Er denkt: «Vielleicht wissen sie durch den Chip in meinem Kopf schon früher über meine Gedanken Bescheid als ich selbst?»

Alles was geschieht, wird für Peter Merkel zur Bestätigung seiner Erklärungsthese. Schaut er sich eine Talkshow an, reden die Leute am Tisch nur über ihn, verschlüsselt natürlich. Er fragt sich, wie die Freunde die Fernsehsender dazu gekriegt haben mitzumachen. Die Freundin muss unendlich viel Geld haben, lautet seine Antwort. Aber es schauen doch noch andere Leute diese Sendung, fällt denen das seltsame Programm nicht auf? «Aber nein», denkt sich Peter Merkel, «wenn ich einschalte, lande ich automatisch auf einem Extrakanal nur für mich.» Peter Merkel klettert im Dunkel auf das Dach seines Wohnhauses und überprüft die Satellitenschüssel nach geheimen Anschlüssen. Er glaubt, seine Eltern schauten heimlich zu bei der Talkshow, und wenn er auf seinen Kontrollgängen leise in deren Wohnzimmer schleicht, glaubt er, die Eltern hätten gerade auf ein anderes Programm geschaltet, weil sie ihn doch gehört haben. «Was für ein Aufwand», denkt er sich damals, «ich muss etwas Besonderes sein.»

Heute sagt er kopfschüttelnd in seinem Zimmer in der forensischen Klinik: «Im Wahn denkt man sich immer etwas aus, damit eines zum anderen passt. Man findet immer was.» Als er zur Freundin fährt, ihr einen Heiratsantrag macht und entgeistert abgewiesen wird, glaubt er, er sei eben noch nicht so weit.

Doch was Erleichterung verschafft, weil es Erklärungen bietet für die Stimmen, verkleinert zugleich die reale Welt ausserhalb des Wahnsystems. Alles, was Merkel umgibt, steht jetzt im Dienste der Stimmen. Er hat keine Angst, aber es gibt keine Ausflucht mehr und keine Pause. Er schläft tagsüber nur noch wenige unruhige Stunden. Mit der Zeit werden die Stimmen aggressiver. «Du schaffst es nicht, du Pfeife», sagen sie. Er wirft auf ihren Befehl hin alles aus seiner Wohnung, was er jemals geschenkt bekommen hat, alles auf einen grossen Haufen, brüllt: «Wenn das nur so geht, will ich nicht.» Seine Eltern glauben, er habe Drogenprobleme. Er glaubt, die Eltern beobachteten ihn. Auch sie reden inzwischen imaginär auf ihn ein. Er hat ihnen noch immer nichts gesagt von den Stimmen. Er meint, sie würden sowieso alles abstreiten.

Auch die Exfreundin beginnt, ihn zu provozieren. Drei Monate vor seiner ersten Einlieferung in die Psychiatrie hört er sie schliesslich abends das erste Mal lustvoll stöhnen beim Sex mit einem anderen Mann. Sehen kann er sie nicht, doch Zweifel kommen im Wahn nicht auf: «Ich war völlig hilflos und überlastet.» Er bittet seine Freundin aufzuhören, droht seinen imaginären Freunden mit dem Tod. Er springt in seinen Peugeot und rast über die Landstrassen, sucht sie, die ja nur in seinem Kopf existiert, schaut vergeblich durch erleuchtete Fenster. Zu Hause zerlegt er seine Wohnung. Einen Monat später wiederholt sich das. Ebenso am 1. September 1997, als er in Rage sämtliche Glasgegenstände und Fenster in seiner Wohnung zerschlägt. Der Vater holt daraufhin die Polizei, die schafft den Tobenden in die Psychiatrie. Dort gibt Merkel an, er habe Ärger mit Freunden gehabt, er sei «in letzter Zeit ohne Unterlass provoziert» worden.

Die Stimmen beruhigen ihn. Er glaubt, die erste Lehrphase, die ihm die Stimmen erteilten, sei vorbei, ihm würde nun der Chip ausgebaut. Er glaubt, er würde seine Exfreundin am 13. September 1997 heiraten, und erwartet bei seiner Rückkehr eine renovierte Wohnung.

Rückfall nach einem Joint

Sechs Wochen nach seiner Einlieferung kehrt Peter Merkel nach Hause zurück. Psy-chopharmaka verdrängen die Stimmen, er lebt wieder ausschliesslich in der realen Welt. Er weiss jetzt, dass er krank ist, und hat einen Vorsatz gefasst: «Wenn wieder Stimmen auf mich einreden, werde ich die entsprechenden Leute sofort ansprechen.» Es wird ihm nicht gelingen. Er wird wie viele andere einen neuen Schizophrenie-Schub erleiden. An dessen Ende wird sein Vater tot sein.

Am Anfang vermisst er die Stimmen, die Gespräche mit ihnen. Er war zuvor anderthalb Jahre keine Stunde allein gewesen. Er spürt «eine unheimliche Leere in einer kahlen und kalten Wohnung». Er schafft sich einen Hund an, einen Husky, und nennt ihn Sally. Sein Vater denkt zum ersten und einzigen Mal an seinen Geburtstag. Peter Merkel meidet seine alten Freunde, aus Angst vor deren Stimmen, findet langsam neue Freunde, setzt die Medikamente ab, organisiert sich einen Hilfsjob bei einem Fotografen, jeden Tag von 9 bis 19 Uhr: «Keine Stimmen, alles okay.» Bis zu jenem Augusttag 1998, als er bei einem Freund einen Joint raucht: «Wie ein Hammer, zack! vor den Kopf, war ich wieder im Film drin.» Merkel geht nach Hause und sagt zu seinem Hund: «Jetzt geht's wieder los.»

Diesmal sind es die Stimmen von zwei neuen Freunden. Nur selten gesellt sich die ehemalige Freundin hinzu. Peter Merkel spricht sie nicht an im realen Leben: «Das war eine gute Zeit damals», erinnert er sich heute.

Er geht jeden Tag in den Fotoladen, im Herbst 1999 beginnt er eine Umschulung zum Fotografen. Er bittet die Stimmen, ihn in Ruhe zu lassen, damit er den Berufsschullehrer hören kann. Sie antworten: «In Ordnung, wir halten uns dran. Du bist auf dem richtigen Weg.» Da ist sie wieder, die «Lehre des Lebens», freut sich Merkel: «Ich dachte, es ist ein zweiter Versuch, wieder mit meiner Freundin zusammenzukommen.»

Die Stimmen halten sich nicht an ihr Versprechen und verdrängen zum zweiten Mal die reale Welt aus Merkels Kopf. Seine Bitten sind zwecklos. Einem der Freunde schlägt er deshalb ohne Erklärung ins Gesicht. Der müsse schliesslich wissen warum. Danach werden die Stimmen noch aggressiver: «Du kriegst sie nicht zurück, du bist zu blöd.» Die Ex-Freundin: «Ich hab's doch gewusst, du Schlaffi.» Nun hacken auch die Stimmen der Eltern auf ihn ein. Nach drei Monaten gibt er auf, bricht die Umschulung ab, geht «zurück nach Hause in den Film» und fragt nach einer Erklärung für die Aggressionen, die ihm von den Stimmen entgegenschlagen. Die Stimmen antworten: «Geh mal gucken, ob du die Lösung des Ganzen findest.»

Peter Merkel wird eine Lösung finden, die seinen Vater einen guten Monat später das Leben kostet. Sie erscheint nur den Gesunden wahnwitzig, vielleicht lächerlich, wahrscheinlich unverständlich. Für einen Schizophrenen wie Peter Merkel aber ist sie so real wie ein bohrendes Hungergefühl.

Es ist Dezember, und es hat schon geschneit, als Peter Merkel auf dem Grundstück des väterlichen Tiefbaubetriebes ein unterirdisches Tunnelsystem ausmacht. Entlang der Fusswege und Abwasserkanäle ist der nur dünne Schnee geschmolzen, und in Merkels Kopf setzen sich diese Linien sinnvoll zusammen. Kanaldeckel werden zu Einstiegsluken, Strommasten zu überirdischen Anschlusssystemen. Merkel klettert auf das Dach seines Wohnhauses und zeichnet eine Karte mit den umliegenden Häusern, stellt fest, dass alle miteinander verbunden sind, das väterliche Grundstück, auf dem Merkels Wohnhaus steht, bildet den Mittelpunkt. Er tastet seine Wohnung nach Hohlräumen ab, hinter der Treppe hallt der Schall - ein Einstiegsschacht. Er bekommt das erste Mal Angst und glaubt, die Stimmen hätten ihn jahrelang nur abhärten wollen, weil er zukünftig in der Tiefe leben soll. Plötzlich aber hört er in der Tiefe Menschen um Hilfe schreien, vergewaltigte Frauen. «Mein Vater muss doch davon wissen», denkt sich Merkel, «es ist doch sein Grundstück.» Noch zweifelt er.

Anweisungen vom Papst

Als sein Vater Tage später an einem Sickerschacht arbeitet und ihn vor den Faulgasen warnt, glaubt Merkel, sein Vater wolle ihn von Nachforschungen abhalten. Hat der Vater müde Augen, sieht Merkel darin Anzeichen für heimliche Nachtarbeit in der Tiefe. «Nach und nach» kommt ihm der Gedanke, sein Vater sei der Kopf einer «Verbrecherbande», die in der Tiefe Menschen quält. Sei Kopf wird erfüllt von «bösen Stimmen», die ihn zum Mitmachen überreden wollen, gute Freunde, die ehemalige Freundin, der nette Berufsschullehrer, die Angestellten des Vaters. Er will nicht, und sie drohen ihm mit dem Tod. Längst vergessene Bekannte hört er in Qualen schreien. Er denkt: «Jeder, den ich kenne, wird dort hineingezogen.» In seinem Kopf toben Stimmen und Schreie. Er fühlt sich unendlich schuldig. Er kann das alles kaum glauben. Er will nicht in die Tiefe und sieht keinen Ausweg.

Drei Wochen bevor er seinen Vater tötet, kommt ihm der Papst zu Hilfe. Es ist der Zeitpunkt, an dem Merkel den Bezug zur realen Welt vollends verliert. Er sei «Jesus», der Auserwählte, der die Verbrecherbande zerschlagen müsse, redet ihm der Papst ein. Es ist die erste «gute Stimme» seit langem. Bill Clinton und Gandhi stimmen mit ein: «Der Satan muss getötet werden.»

In der nächsten Zeit kämpfen in seinem Kopf die guten gegen die bösen Stimmen. Zwei Tage vor der Tat sieht Merkel auf dem Dach des Elternhauses schwarze Schatten, die mit Gewehren auf ihn zielen. Voller Angst lässt er die Rollläden herunter und kriecht den Wänden entlang aus Furcht vor Kugeln. «Pass auf», sagt der Papst, «sie kommen von überall. Wir müssen schnell handeln, sonst erwischen sie dich.»

Verängstigt sitzt Merkel in der Nacht vor der Tat auf seiner blauen Eckcouch und ersinnt auf Geheiss des Papstes Todesarten für jeden einzelnen der «Verbrecher». Autounfall, Sturz vom Dach, Ertrinken. Am nächsten Morgen soll keiner mehr am Leben sein, sagen die Stimmen, dann herrsche endlich Ruhe auch in Merkels Kopf. «Ich wollte das nicht», erinnert sich Merkel, «aber sie hätten mich sonst getötet.»

Als Peter Merkel am nächsten Tag den Be-triebshof seines Vaters betritt und sieht, dass die Angestellten noch leben, kommen ihm Zweifel. Sein Vater kommt ihm entgegen. Merkel tritt auf ihn zu und fragt: «Hast du meine Mutter vergewaltigt?» Überrascht und wutentbrannt nimmt ihn der Vater in den Schwitzkasten. «Heiliger Vater, hilf mir», ruft Peter Merkel, reisst sich los und schlägt auf den Satan ein, bis der Vater tot am Boden liegt.

Im Sommer 2002 hat Peter Merkel zum ersten Mal das Grab seines Vaters besucht. Er hat geweint und weisse Blumen abgelegt. Seit der Tat träumt er oft, wie sie miteinander reden. Derzeit macht er eine Psychotherapie und lernt, auf sich selbst und Anzeichen eines schizophrenen Schubs zu achten. Laut psychologischer Prognose wird er die forensische Klinik frühestens in sechs Jahren verlassen können und anschliessend lebenslang Medikamente nehmen. Die Familie hat jeden Kontakt zu Peter Merkel abgebrochen.

* Name geändert

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