Frankfurter Rundschau, Juni 2004 zurück zur Übersicht
„Es war ein Alptraum.“
Die dementen Eltern ins Pflegeheim abschieben – das will niemand.
Das kann man seinen Eltern doch nicht antun. Wer so spricht, macht es sich einfach.
Denn er vergisst, was pflegen heißt.
Elli verbrennt in heißem Fett. Ellis Haut krustet sich zusammen, wird braun,
wechselt ins Schwarz. Das Fett wirft Blasen an Elli, erst auf der einen
Seite, und als Frau Bünnagel sie herumwirft, auch auf der anderen Seite."Elli, Elli, Elli", singt Frau Bünnagel.
"Das hat sie am liebsten gemacht", sagt Gabriela Schneider, Frau Bünnagels
Tochter. Klopse braten. Dabei hat Frau Bünnagel immer mit den Klopsen
gesprochen. "Damals war sie gut drauf", erinnert sich Gabriela Schneider.
Damals, Ende 2001. Ihr Mann Wolfgang hatte die Videokamera ausgepackt und
seine Schwiegermutter gefilmt in der Küche am Herd, mit der Schürze vor dem
Bauch und dem Pfannenwender in der Hand. Sie lacht in diesem Film, ihre
Augen blitzen. "Einen Satz kriegte sie kaum mehr raus", sagt ihre Tochter,"wir haben sie damals für uns gefilmt."
Denn es würde schlimmer werden mit der Mutter, das war klar. Die lichten
Momente würden weniger werden und damit auch die friedlichen Zeiten in der
Familie Schneider. Sie würden in die Vergangenheit verschwinden und
vielleicht aus der Erinnerung. Deshalb das Videoband. Vielleicht würden sich
ohne schöne Bilder sonst nur die Momente festsetzen, die wehtun, die
Gabriela Schneider zum Psychologen getrieben haben, die Magenschmerzen beim
Aufstehen ausgelöst haben, Tränen beim Zubettgehen. Nach eineinhalb Jahren
brach sie zusammen, entschied sich schließlich, die Mutter ins Pflegeheim zu
geben. Dazu die bittere Erkenntnis, dass sie es nicht schafft, ihre
alzheimerkranke Mutter zu pflegen.
Pflegen oder nicht, diese Frage muss sich jeder allein beantworten. In
Deutschland sind derzeit mehr als zwei Millionen Menschen pflegebedürftig.
Zwei Millionen Menschen mit Töchtern, Söhnen, Ehemännern, Ehefrauen, Enkeln,
Neffen, Nichten. Es wird in der Zukunft noch mehr Pflegefälle geben und
damit auch immer mehr Angehörige, die sich dieser Entscheidung stellen
müssen.
Die Lebenserwartung steigt, und mit ihr die Häufigkeit der Gebrechen, gerade
der geistigen, denn der körperlichen Fitness folgt der Verstand nicht
unbedingt. Heute sind beispielsweise 1,2 Millionen Menschen in Deutschland
demenzkrank. Schätzungen zufolge werden es im Jahr 2050 an die zwei
Millionen sein.
Pflege macht krank. Drei von vier Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt.
Laut einer Studie der Caritas Köln und der Universität Dortmund leiden 75
Prozent der Angehörigen unter Erschöpfung, Schlafstörungen und anderen
Krankheiten; 88 Prozent fühlen sich überfordert, ausgebrannt und klagen über
Spannungen in der Familie. Drei von vier Befragten wollen später einmal
nicht zu Hause gepflegt werden. Wenn den Angehörigen niemand hilft, sind sie
die Pflegefälle von morgen.
Die Schneiders haben das nicht gewusst. Ihre Entscheidung ist schnell
gefallen. Ein halbes Jahr nach der Alzheimer-Diagnose, im Juni 2001, war
klar, dass die 72-jährige Mutter nicht mehr alleine wohnen kann. Gabriela
Schneider schaute sich ein paar Pflegeheime an. Danach stand fest: "Die Mutter gehört nach Hause."
Heute sitzt Gabriela Schneider, 49 Jahre alt, in ihrer Wohnung im sechsten
Stock eines Hochhauses im Kölner Westen am mächtigen Wohnzimmertisch. Kurze
dunkle Haare, sonnengelbe Hose, sonnengelber Pullover. "Ich habe mich zuerst
gefreut. Über die Krankheit macht man sich keine Gedanken. Meine Mutter war
ein bisschen tüttelig, das war alles." Gabriela Schneider seufzt leise. "Wir
dachten, wir könnten sie versorgen, so wie man das früher in der Großfamilie
machte." Ein großer Wunsch hätte in Erfüllung gehen können. "Ich habe mich
mein Lebtag nach meiner Mutter gesehnt", sagt Gabriela Schneider, "als Kind
fand ich sie immer toll, bin ständig hinter ihr hergerannt."
Ihre Mutter sei immer einen Schritt voraus gewesen. Gabriela Schneider legt
Fotos auf den Tisch, sie sind aus der Zeit, als sie noch gesund war. Eine
elegante Frau in den Fünfzigern schaut in die Kamera, die blonden Haare
sorgsam frisiert, der blaue Ohr-schmuck passt wunderbar zum blauen Kleid.
Die Frau auf dem Foto lächelt, die Augen blicken stolz, der Kopf ruht
elegant am aufgestützten Arm. Der Rücken ist gerade. "Meine Mutter gab sich nie eine Blöße", sagt die Tochter. Große Feste wurden gefeiert im wohlhabenden Elternhaus, schon in den 50er Jahren gab es Pommes und frittierte Hähnchenschenkel. "Hin und wieder hat sie mich auch in den Arm genommen", erinnert sich Gabriela Schneider. Gereicht hat das nicht, das wird schnell klar, wenn sie spricht. "Als sie kam, dachte ich, jetzt habe ich sie endlich bei mir." Viele Jahre wusste Gabriela Schneider kaum, wo die Mutter war, die um die Welt reiste, ohne sich zu melden, mit dem Kegelverein oder ihrem deutlich jüngeren Freund. Ab und an telefonierten sie miteinander, ohne wirklich miteinander zu reden. "Trotz-dem", sagt Gabriela Schneider, "ich hatte sie eigentlich gern, ein herzliches Gefühl, es war eigentlich gut."
Im Juli 2001 zieht die Mutter mit ihrem Freund in eine Wohnung in Gabriela
Schneiders Haus, drei Stockwerke drunter. Sie kann gut laufen, ins Café
gehen. Doch ein Glas Wasser eingießen, das schafft sie nicht. Sie
verwechselt Messer und Gabel oder lässt das Besteck liegen. Ihre Kleider
zieht sie verkehrt herum an, und auch waschen kann sie sich nicht mehr. Sie
vergisst es. Oft steht sie aufgelöst auf dem Balkon, mitunter nackt. "Super"
ist ihr Lieblingswort. "Ich war so naiv zu glauben, dass ihre Freunde helfen werden", erinnert sich Gabriela Schneider. Doch der Lebensgefährte zieht schon nach vier Wochen aus, und aus der Wochenendbetreuung, die sich die Schneiders vorgestellt hatten,
wird Vollzeitpflege.
Niemand hilft. "Wir müssen uns damit arrangieren", sagt Wolfgang Schneider.
Das Paar weiß: "Es wird einen Zeitpunkt geben, ab dem wir es nicht mehr
schaffen." Gabriela Schneider denkt: "Wenn sie ein Pflegefall wird, dann ist
Schluss." Pflegefall, glaubt sie damals, das ist jemand, der bettlägerig ist.
Zum Glück schläft die Mutter durch, so dass die Nächte gerettet sind. Doch
der Tag wird zum Marathonlauf. "Ich hatte jeden Morgen schon beim Aufwachen
nasse Hände und Magenschmerzen", sagt Gabriela Schneider. Sie knispelt mit den Fingern, während sie erzählt am großen Wohnzimmertisch, sie friert. Schließlich fließen die Tränen. Nach fünf Minuten kann sie weitersprechen, von damals."Ein Kind kann man ja mit ins Bett nehmen", hebt sie wieder an, "aber die
Mutter . . ."
Sie holt sie aus dem Bett. Beim Waschen muss sie Scham überwinden und beim
Einsetzen des Gebisses ein Gefühl des Ekels. Sie muss den Widerstand der
Mutter aushalten, wenn sie sich wehrt gegen die Hände an ihrem Körper und
ihrer Tochter das Gebiss ins Gesicht wirft, und sie muss ihre eigene Panik
aushalten davor, dass das passiert.
Während sie das Frühstück bereitet, schimpft die Mutter leise vor sich hin.
Gabriela Schneider stellt dann das Radio ein wenig lauter. Den Schmerz in
ihrem Innern kann sie damit nicht übertönen. "Diese Gehässigkeit war
unglaublich, wie Abscheu."
Weiter geht der Tag, der nächste schließt sich an. Das Bett machen, die
Zeitung reichen. Kaum wagt sie, die Mutter für eine Stunde allein zu lassen,
denn diese streift unruhig durch die Wohnung, zieht sich zwei Hosen
gleichzeitig an, räumt Schränke aus, bekommt Angst. Die Mutter sieht gern
fern, "Das Traumschiff" und Musiksendungen. Gabriela Schneider achtet auf
die Sendungen, denn wenn sich das Programm ändert und plötzlich ein Krimi
läuft, gerät die Mutter in Panik. Auch aus Angst davor guckt sie lieber mit.
Was menschliche Beziehungen aus-macht, bleibt fern. Gespräche, Gedanken,
Zuspruch. Wie soll jemand den anderen verstehen, wenn er sich selbst nicht
mehr begreift. Wie soll Gabriela Schneider ihre Mutter verstehen, wenn sie
nicht weiß, was Wahn ist und was Wirklichkeit.
Es ist ein Leben in Habachtstellung. Ruhezeiten gibt es nicht. Hängt
Gabriela Schneider die Wäsche auf, hängt ihre Mutter sie wieder ab. Macht
sie den Mülleimer auf, muss sie feststellen, dass ihre Mutter den Eimer mit
der Toilette verwechselt hat. Richtet sie die Kissen auf dem Sofa, findet
sie dahinter ein zermatschtes Spiegelei. "Es war ein Albtraum", sagt sie,"denn es war nie zu Ende."
Dabei hat Gabriela Schneider noch Glück. Ihr Mann hilft, bringt das Essen,
baut Bewegungsmelder ein für das Licht in Mutters Bad. Spätabends hört er
seiner Frau zu. Nur so hält sie durch. Vier von fünf Pflegenden sind Frauen.
Die Kraft reicht trotzdem nur für drei Monate. Dann geht Gabriela Schneider
zu einem Psychologen. Sie sieht keinen Anfang, kein Ende, kein Ziel. Sie
weiß, dass es nicht die Mutter ist, die ihr das Leben schwer macht, sondern
deren Krankheit. Aber was nützt das schon im Alltag. "Ich wusste nicht
einmal, was ich fragen soll. Ich wollte nur, dass mir einer die Mutter
abnimmt."
Doch sie gibt sie nicht ab. Noch nicht. Heute sagt sie: "Ich habe immer
gedacht, ich merke, wenn ich nicht mehr kann." Heute weiß sie, dass sie sich
geirrt hat. "Es ist ein Schleichen. Man rutscht immer tiefer, wie auf einer
schiefen Ebene. Man glaubt immer, morgen wird’s besser." Es fehlt ja schon
die Zeit zum Nachdenken.
Sie macht weiter, will nicht nur verwahren. Sie hat gelesen, dass sich
Alzheimer nicht aufhalten lässt, doch sie versucht es. Sie organisiert
schlesische Gurken, Würstchen und Senf, in der Hoffnung, dass sich die
Mutter an die Zeit erinnert, als dies eines ihrer Leibgerichte war. Sie
besorgt sich die Texte von Volksliedern, die ihre Mutter gerne singt, um
mitsingen zu können, Kontakt zu schaffen, Anregung zu bieten. Sie pflanzt
Clematis auf dem Balkon der Mutter, Blumen wie im alten Zuhause. Sie drückt ihrer Mutter Strickzeug in die Hände. Die Mutter sagt: "Ich glaube, ich habe vergessen, wie das geht." Ein lichter Moment, ein wahres Wort, Gabriela Schneider schöpft Hoffnung. Am nächsten Tag dämmert die Mutter wieder vor sich hin. "Es war so enttäuschend", sagt Gabriela Schneider, "aber man kann sich nicht frei machen von Erwartungen. Ich habe
es oft versucht."
Sie arbeitet an gegen den Verfall. Sie schöpft Kraft aus den schönen
Momenten, die es trotz allem gibt: Wenn die Katze den Pudding frisst und sie
mit ihrer Mutter in Lachen ausbricht; wenn die Mutter morgens lächelt und
freundlich bleibt; auf den Ausflügen mit dem Auto, bei denen die Mutter
ruhig schaut; im Seniorenklub beim Kaffeetrinken; wenn sie im Einkaufscenter
Kleider finden, die der Mutter gefallen; wenn es der Mutter schmeckt, und
wenn sie beim Wäscheaufhängen sagt: "Warte Gabi, ich helfe dir." Auch, wenn
sie nicht helfen kann.
Aber längst gibt es kein Leben mehr neben der Pflege, keine Freunde, keine
Zeit für sich. Auch merkt Gabriela Schneider, wie stark sich die gemeinsame
Lebensgeschichte in die Zeit der Pflege drängt und für weitere Verletzungen
sorgt. Sie kann nicht so verzeihen, wie sie gerne möchte.
Als sie Wolfgang im Dezember 2001 heiratet, drängt sich die Mutter beim
Sektempfang in den Mittelpunkt, lacht gekünstelt, spreizt und dreht sich,
reißt das Fest an sich. "Da kam mir die Galle hoch", erinnert sich Gabriela
Schneider, "sie funkte mir einfach dazwischen. So war das immer."
Als sie die schmutzige Toilette reinigt, hört sie ihre Mutter wispern: "Die
Gabi muss man totschlagen, totschlagen." Gabriela Schneider weiß es noch wie
damals: "Ich hätte ihr ins Gesicht schlagen können. Ich dachte, da kommt
hoch, was sie schon immer über mich gedacht hat."
Niemand lässt sich verantwortlich machen, nichts lässt sich bereden. Wer
weiß schon, was die Mutter noch von dem versteht und meint, was sie sagt.
Gabriela Schneider muss Wut und Schmerz mit sich ausmachen. Sie weiß, dass
Aggressionen normal sind. Ja und? "Hätten wir sie bloß nicht am Hals", denkt sie im einen Moment. "Wir schaffen das schon", glaubt sie im nächsten Augenblick. Und macht wieder weiter.
Es dauert 16 Monate, bis klar ist, dass sie es nicht schaffen wird. Die
Mutter findet inzwischen kaum mehr Ruhe fürs Fernsehen oder Zusammensitzen.
Sie steht in einer Zimmerecke und brummelt vor sich hin. Sie versteckt
gebrauchte Tempos und Speisereste. Sie isst kaum, lässt sich aber auch nicht
füttern. Zähne putzen kann sie nicht mehr. Die Aggressionen aber nehmen zu.
Gabriela Schneider friert oft und denkt manchmal: "Wenn sie so weiter macht,
tu ich ihr etwas an." Ihre Wut schreibt sie sich weg in ein Tagebuch, auch über "die Idioten, die alle nicht helfen".
Dann geht alles ganz schnell. Als Gabriela Schneider an einem Tag im Oktober
2002 ihrer Mutter das Kleid aufknöpft, geht die Mutter ihr plötzlich an die
Kehle und tritt ihr gegen das Knie. Sie fällt aufs Bett, rappelt sich auf
und flüchtet aus der Wohnung. Sie weint und weint, bekommt schlagartig
Fieber. Weil der Verstand keine Grenze ziehen konnte, hat es die Seele getan.
Ihr Mann sagt am Abend zu ihr: "Jetzt geht es nicht mehr." Gabriela
Schneider hat dem wenig entgegenzusetzen. Drei Tage später wird in einem
Pflegeheim im Kölner Umland ein Platz frei.
Kurz vor dem Umzug näht sie Namensschildchen in Mutters Garderobe. "Wie ein
Schwein" sei sie sich vorgekommen, sagt Gabriela Schneider, und auch jetzt
am Wohnzimmertisch kann sie die Tränen nicht unterdrücken.
Warum hat sie so lange gezögert mit dem Heim? "Das hat nichts mit Verstand
zu tun." Sie denkt an die anderen Pflegenden, und sie weiß: "Keiner trifft
diese Entscheidung früh genug. Sie sind wie Alkoholiker. Sie glauben, sie
hätten es noch im Griff."
Gabriela Schneider wird sich selbst nicht von ihren Kindern pflegen lassen.
Sie hat ein Dreivierteljahr gebraucht, um wieder schlafen zu können. Doch
jetzt überlegt sie, die Mutter zurück nach Köln zu holen, in ein Heim ganz
in ihrer Nähe. "Für meinen Seelenfrieden will ich sie öfter sehen", sagt sie.
Wenn sie ihre Mutter besucht und ihre Hand hält, versetzt es Gabriela
Schneider jedes Mal einen Stich. "Es tut weh, wenn sie mit ausdruckslosen
Augen durch mich hindurchschaut. Es ist immer wieder ein Stück Abschied mehr.“
Die Mutter zu sehen fällt ihr nicht leicht. "Ich bin wie der Hund, der sich
an der Leine sträubt", sagt die Tochter. "Und zugleich bin ich derjenige,
der an der Leine zerrt."
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