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GEO Saison, März 2006                                                                                                    zurück zur Übersicht

Labor Leipzig

Ob Kellerkneipe oder Museum, Galerie oder Autofabrik: Künstler und Lebenskünstler nehmen den Freiraum Ost in Besitz und machen die Stadt zum spannenden Experimentierfeld

Als es bei dem Mann mit den Krücken klingelt, reißt er den Tretroller von der Wand. Er stürzt vorbei an Leitern, Besen, Gummihänden, einem auf den Kopf gestellten Krankenbett und dem Krückenstapel und heraus aus seinem Atelier. Steigt auf den Roller, stößt sich über den gegossenen Beton an einem Stapel Telefone vorbei, zwischen den endlosen Reihen orangefarbener Stahlträger hindurch, kurvt rechts um die Ecke, bis er ganz hinten scharrend bremst und als dunkler Punkt im kräftig gelben Licht der Abendsonne die dicke Stahltür zum Treppenhaus aufstemmt. Drei Meter über seiner gedrungenen Gestalt kringeln sich blaugrüne Farbfetzen von der Betondecke wie vertrocknete Schlangen – Baumwollspinnerei Leipzig, Halle 18, dritter Stock, Atelier Sandro Porcu. Mobiles, Installationen, Objekte. Streichelbetten mit Straußenfedern. Lagerfeuer zum Mitnehmen. Und Hirsche aus Krankenhauskrücken. „Ohne den Roller bräuchte ich ja ewig bis zur Tür“, sagt der 40-jährige Porcu und hängt das Ding wieder neben das Krankenbett.

Porcu steckt den kurz geschorenen Schädel aus dem Fenster und schaut auf das neue Leipzig. Rote Backsteinhallen glühen im Abendrot, rechts und links aufgereiht an einigen 100 Metern rostigen Schienenstrangs der ehemaligen Fabrikeisenbahn. Im Inneren der 23 weitläufigen Gründerzeitbauten spannen Hände Leinwände auf Holzrahmen, tragen Farbe auf, wischen über bekleckste Hemden. Augen nehmen Maß, Gehirne imaginieren Pinselstriche.
In den minimalistisch sanierten Galerien gegenüber entweichen Mündern vor großen Bildern große, fünfstellige Zahlen. Spediteure packen die Kunst in Lastwagen. Sandro Porcu schaut aus dem Fenster und sagt: „Die Leute hier haben viel zu tun.“ Und einige machen richtig Geld.

Rund achtzig Künstler arbeiten in Europas ehemals größter Baumwollspinnerei, in der bis zur Wende 4000 Menschen Garne auf laut ratternde Spindeln wickelten, bevor sie selbst abgewickelt wurden. Heute rollen Käufer in Limousinen über das Katzenkopfpflaster, verklemmen sich Pfennigabsätze zwischen Mergel und Steinen, streunen an den Wochenenden Busladungen von Kunstfreunden durch die Hallen auf der Suche nach der „Neuen Leipziger Schule“. Nach Bildern, auf denen Menschen als Menschen zu erkennen sind und Gegenstände als das, was sie sind. Nach Bildern, die ein Lebensgefühl der Ungewissheit und des Fremdseins vermitteln – und die damit den Zeitgeist treffen.

Ein Dutzend junge Maler haben diesen Ort berühmt gemacht. Wie der Objektkünstler Porcu zogen sie Mitte der neunziger Jahre hier in den wilden Westen Leipzigs, ins Stadtviertel Plagwitz – für die Kunststudenten ein billiger Platz zum Malen. Hier hatten sie ihre Ateliers, als der Boom vor drei Jahren losbrach, hier arbeiten sie noch immer. Inzwischen residieren die wichtigsten Leipziger Galerien am Platz. Die Bilder der bekanntesten Maler wie Neo Rauch oder Tilo Baumgärtel sind zuweilen schon teuer nach Übersee verkauft, bevor der Nagel zum Aufhängen überhaupt in die Galeriewand geschlagen ist.

Die Baumwollspinnerei steht Modell für das, was Leipzig zur neuen deutschen Kunstmetropole macht. Aus der ehemals grauen Industriestadt, durch die sich die giftschaumbedeckte Pleiße wand, wird ein Ort der Ideen – ausgebrütet und vermarktet in den steinernen Relikten der Chemie, des Maschinenbaus, der Textilfabriken. Farbig, laut, schrill, auch bedächtig. Aber immer mit dem Mut zum Risiko. Überall in der Stadt nehmen kreative Leute Besitz von diesem Freiraum, machen Leipzig zum Abenteuerspielplatz für Kunstreisende und Entdecker.

Während in anderen Großstädten jeder Dachboden ausgebaut und jeder Quadratmeter freie Fläche teuer verplant und vermauert ist, droht Leipzig zu zerfallen in grandios sanierte Gründerzeitquartiere, spektakuläre Architekturwunder – und ungenutzte Brachen, Ruinen. Nach dem Zusammenbruch der DDR-Industrie und dem Treck nach Westen stehen in der Stadt 50 000 Wohnungen leer, jenseits des Innenstadtrings sind es mitunter ganze Straßenzüge. Allein in Plagwitz entstanden 60 Hektar Industriebrache.

Kultur wird zum Kitt, der die Stadt zusammenhält. „Spazieren gehen ist noch spannender als malen“, sagt Bertram Weisshaar. Der 44-jährige selbsternannte „Spaziergangsforscher“ entdeckt Landschaften, indem er in sie hineinführt, sie manchmal ein wenig verändert, zuweilen ganz anders nutzt. Er hat schon auf einer Baustelle gepicknickt und Hängematten in den Wald gehängt. Weisshaar führt hinaus aus dem Zentrum mit seinen überbordend verzierten Bürgerhäusern, den edlen Passagen, den geschäftig hin und her eilenden Bürgern, führt mitten hinein ins Labor Leipzig. Im Park hinter der Oper hat einer mit dem Rasentrimmer eine handballfeldgroße, kreisförmige Skulptur in die Wiese gefräst, ein paar Schritte weiter hängt eine meterlange Wurst aus Plastiktonnen in den Bäumen. Am Lindenauer Markt steht Weisshaar plötzlich mitten im Schlafzimmer: Eine drei Stockwerke hohe Giebelwand mit Blümchentapete beklebt, daran zwei überdimensionierte Nachttischlämpchen, auf der Brache davor blühen zwei dicke Betten aus weißen Rosen. Daneben ein „Stattpark“ aus 100 blauen Parkplatzschildern. Gegenüber leuchtet weiß und rot restaurierte Gründerzeitherrlichkeit. „Dieses Nebeneinander“, sagt Weisshaar, „macht das Spannende aus. Die ganze Stadt ist eine Skulptur.“

Es gibt keinen Masterplan für diese Skulptur. Zu wild bricht die Stadt hier ein, schießt dort protzig in die Höhe. Wer sie entdecken will, muss sich treiben lassen. Und entdeckt Gärten inmitten von Häuserreihen, auf den Dächern gigantische Leuchtreklamen aus sozialistischen Zeiten und Galerien in aufgegebenen Ladenlokalen. Zugleich finden Architekten mit Leipzig ein Testfeld für neue Formen. In einstigen Baulücken machen sich avantgardistische Stadthäuser schmal, aus Beton und Holz und so viel Glas, dass man den Bewohnern in den Spaghettitopf schauen kann. Das aufgemotzte Zentralstadion wölbt sich wie eine riesige Muschel aus Stahl und Luft. Und draußen vor der Stadt nimmt das neue BMW-Werk die Zukunft vorweg. Einem Raumschiff gleich macht sich die Automobilfabrik seit Frühjahr 2005 auf den Äckern im Norden Leipzigs breit. Von Ferne betrachtet ein endloser Industriebau aus geriffeltem Blech. Doch in der Mitte schält sich nach und nach ein schwarz-grüner Keil heraus, eine Walschnauze, mit Fenstern wie Luchsaugen – das Zentralgebäude, wie alles entworfen von der Londoner Stararchitektin Zaha Hadid.

Im Inneren gerät die Welt aus dem Lot. Ein offener Raum aus Sichtbeton, Aluminium und Licht, auf 26000 Quadratmetern Nutzfläche. Wände, Treppen, Stützen, Fenster, Mauerdurchbrüche – alles scheint sich gegen einen starken Sturm zu stemmen, kann sich nicht gerade halten, kippt hier in die eine, dort in die andere Richtung. Mittendrin arbeiten die mehr als 600 Planer, Ingenieure und Computertechniker des Werks, verteilt auf Büroflächen, die wie bei einer Wasserkaskade aufsteigend und fließend ineinander greifen. Über ihren Köpfen, auf einem 600 Meter langen Förderband, kreisen blau angestrahlte Karosserien auf dem Weg von der Schweißerei zur Lackiererei und wieder zurück zur Montage. Die Automobilwerker haben sich ein offenes Haus gebaut, damit ihre Energie frei strömen kann. Das passt zu Leipzig. Denn hier wird der Freiraum, verbunden mit der Freiheit, ihn zu nutzen, zum Treibstoff für die ganze Stadt. Er zieht junge Leute an, mit vielen Ideen im Kopf, aber wenig Geld in der Brieftasche.

So wurde aus der Südvorstadt entlang der Karl-Liebknecht-Straße das quirligste Stück Leipzig. Tagsüber schieben Eltern Kinderwagen über die Granitbürgersteige, am Abend leuchtet Abenteuerlust in den Augen der Passanten. Sie steigen hinab in das blaue Kellergewölbe von „Ilses Erika“, wo Jörn Drewes das Licht für die Show prüft. In Leipzigs Wohnzimmerklub Nummer eins werden heute Abend Lokalhelden der Musikszene nach allen Regeln der Kunst auf der Bühne auseinander genommen. Die Jungs schwitzen beim Ausdruckstanz, winden sich beim Vortrag peinlicher Textstellen, punkten beim Karaoke – das Publikum feiert seine Helden und tobt vor Begeisterung auf wackelnden Klappstühlen.

Seit sieben Jahren betreibt Drewes „diese kleine Bühne, wo wir alles machen können“. Engtanzpartys und Glücksradspiele. Dokumentarfilmabende und Poetry Slams. Als Big-Brother-Parodie haben sie acht Diskjockeys in Käfige gesperrt und vom Publikum herauswählen lassen. Drewes kam als Student aus Hannover nach Leipzig, jetzt ist er 35. „Hier gab es Freiräume, davon hätte ich mir nicht träumen lassen. So einen Klub hätte ich im Westen niemals aufbauen können.“

Ilses Erika ist mit der Südvorstadt gemeinsam gewachsen. Im Leerstandsgebiet von einst ist kaum mehr eine Wohnung frei, an manchen Wochenenden geraten auch etablierte Kunstsucher von der Baumwollspinnerei in das Tanzcafé. Die Leipziger Kultur-Enthusiasten peppen indes den nächsten Stadtteil auf. Das neue In-Viertel heißt Schleußig, eine ehemalige Beamteninsel zwischen Elsterflutbecken und Weißer Elster, wo nun Literaturkarawanen übers Pflaster ziehen und man in einer ehemaligen Drogerie Hörspielen lauschen kann.

Niemand weiß, wieviel Zeit solchen Orten bleibt. Die Szene bleibt in Bewegung, und sie hat es mitten hinein geschafft in Leipzigs gute Stube am Sachsenplatz. Der Weg zum Schnittpunkt der freien Kunst in Leipzig führt durch eine mächtige Tordurchfahrt in „Kretschmanns Hof“, ein gewaltiges, schwarzes Stadtpalais. Rechts hinten öffnet sich eine Glastür, durchs grün gekachelte Treppenhaus winden sich die Stufen um den vernagelten Paternoster. Es riecht nach Staub und Öl und altem Büro. Im ersten Stock rechts eine weitere Glastür: willkommen im „Laden für Nichts“, dem Leipziger Ort, wo alles geht. Dem Reich von Uwe-Karsten Günther, 43 Jahre alt, groß, kahlköpfig und ein wenig verschnupft, weil die Heizung gerade nicht funktioniert. Das ist dumm, denn er wohnt auch hier. Drei Räume, eine Bar. Blanker Betonboden, weiße Wände, weißes Licht. „Das ist der Nullpunkt“, sagt Günther, „hier kann sich Aktivität voll entfalten.“

Seit acht Jahren steigen im Laden für Nichts diejenigen auf, die der Leipziger Brutkasten für moderne Kunst, die Hochschule für Grafik und Buchkunst, Jahr für Jahr ins Künstlerleben stößt. Mittlerweile stellen auch internationale Gäste aus. Bilder, Grafiken, Skulpturen. Sie haben eine Arztpraxis gebaut, ein altes Café originalgetreu inklusive Tortenschlacht wiederbelebt, haben Boxkämpfe überstanden und Roulette-Runden bestritten, schickten Klänge durchs Weiß und so manchen Besucher in den geistigen Irrgarten.

Günther steht am großen Fenster hin zum Sachsenplatz, schaut hinüber auf die ehemalige Kriegsbrache, wo sich die Stadt Leipzig endlich wieder ein Haus für die Kunst errichtet hat. Und was für eins. „Ich muss mir hier jeden Pott Farbe organisieren“, meint Günther, „und da drüben haben sie die Millionen verbaut.“ Er wartet, lächelt dann: „Hier die Subkultur, und gleich gegenüber die gestandene Kunst – ist das nicht Klasse?“

Ein schimmernder Kasten aus Glas, Sichtbeton und Muschelkalk ist das neue Bildermuseum, eine 75 Millionen Euro teure Schatztruhe, seit Beginn 2005 gefüllt mit knapp 600 Werken aus sechs Jahrhunderten Leipziger Sammlergeschichte. Wer die schweren Glastüren aufstößt und die Treppen emporsteigt, schaut Schmerzensmännern in die gebrochenen Augen, beobachtet mittelalterliche Schönheiten beim Liebeszauber, erleidet Schiffbruch mit der heiligen Walburga, stürzt sich vom Kreidefelsen auf Rügen und besucht oben unterm Dach mit Neo Rauch den bekanntesten neuen Leipziger Maler. Es könnte einem die Puste ausgehen bei dieser Reise durch Zeit und Raum. Wie die Stadt ist das Bildermuseum ein Ort der Entdeckungen. Da steht, als moderne Installation, ein Radargerät neben einem Gemälde von Max Beckmann. Dort muss der Besucher den Kopf einziehen und unter einem Bergmassiv hindurchtauchen.

Und doch gibt es hier auch Luft zum Durchatmen, in diesem lichten Bau, der innen hohl ist, der auf jeder Etage Ausblicke bietet. Man breitet die Arme aus und fliegt. Man kommt sich klein vor im Bildermuseum, aber frei, und wer sich traut zu singen, wird überrascht sein vom vollen Klang der Stimme.

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