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GEO Saison, März 2008                                                                                                   zurück zur Übersicht

Das Glück wohnt am Niederrhein

Gehören Sie zu jenen, die nur mit den Schultern zucken, wenn von der Region zwischen Düsseldorf und Kleve die Rede ist? Unsere Empfehlung: Nehmen Sie sich etwas Zeit und fahren Sie hin – zu unerwarteten -Kunstschätzen, kraftvollen Landschaften und Menschen, die ihren Platz gefunden haben

Wo sich das Wasser mit dem Land vermählt, verstecken sich kleine Fische im Gras. Das Boot gleitet still landeinwärts, in der Strömung schwingen Blumen sanft hin und her. Rheinkilometer 821 bis 831, rechtes Ufer, Tag vier des Hochwassers. Gerhard Steinling stakt in der Nähe von Wesel seinen Kahn durch die verkehrte Welt. Ein kräftiger Wind streicht vom Deich hinab über die Rheinwiesen und kräuselt das schwarzgrüne Nass. „Der Rhein braucht Platz“, sagt der Fischer, angetan mit dickem Pullover und grüner Gummihose, „aber wir haben ja genug.“ Fast drei Kilometer sind es von Deich zu Deich, der Fluss dazwischen ist in ruhigen Zeiten nur 300 Meter breit. Jetzt ragen die Spitzen der Uferböschung gerade noch handbreit aus dem Wasser.

Jeden Tag ist Steinling hier draußen, erntet Barsch, Brasse, Aal und Rotauge im Takt des Niederrheins. Über Jahrtausende hat der Fluss immer wieder sein Bett gewechselt und dadurch silberblaue Altarme hinterlassen. An ihren Ufern saufen sich schlanke Pappeln in den Himmel. Entwässerungsgräben spalten die Erde, damit ihre Bewohner nicht ständig nasse Füße kriegen. Es ist ein flaches, sattgetränktes Land, das sich zwischen Düsseldorf und der niederländischen Grenze erstreckt.
Im Sommer räkelt sich der Fluss meist gemütlich im Bett, im Winter streckt er sich aus und verwandelt Wiesen in Seen. „Dann mache ich manchmal den Motor aus und horche nach den Rheinschiffen“, sagt Steinling. „Und nach den Autos am Ufer – denn dort muss ich ja wieder hin.“ Auf seinem Rückzug hinterlässt der Rhein glasklare riesige Pfützen, in denen Gänse und Enten schnattern; düngt die Weiden, deren Gräser Monate später von schwarzbunten Kühen gerupft werden. Steinling sagt: „Dieser Fluss, das ist mein Garten, ist Leben.“

„Nicht jeder verträgt diese Landschaft“, sagt Franz Joseph van der Grinten, „doch sie hat etwas ganz Erhabenes.“ Wer hier lebe, sei im Besitz unbegrenzten Raums. „Der Niederrhein versetzt die Menschen in einen Zustand der Gelassenheit.“ Der 74-jährige Bauernsohn aus Kranenburg hat das Land gemalt, seit er beim Pflügen ein Gefühl für seine Form fand. Strenge Flächen, gefügt zu vielfarbigen Mosaiken, wie Luftbilder des Niederrheins. Das Land weckte seine Liebe zur Kunst, die sein ganzes
Leben bestimmte. Er hat Bilder gesammelt, Zeichnungen und Skulpturen, vom Jugendstil bis in die Gegenwart, zuerst für Ausstellungen in der Scheune, dann in den Museen der Welt. Heute zeigt er diesen Schatz im Museum Schloss Moyland, einer steinernen Wasserfeste im Norden des Niederrheins. Dicht an dicht hängen Landschaften, blicken junge Frauen den Besucher fordernd an, geben abstrakte Farbkompositionen Rätsel auf. Auf Moyland ist auch so viel Beuys zu sehen wie sonst nirgendwo – van der Grinten kannte den Künstler vom Niederrhein bereits, als dessen Werke noch für einen Apfel und ein Ei zu bekommen waren.

Kunst am Niederrhein? Nur auf den ersten Blick erscheint das wie ein Widerspruch. Das Land lockte die Künstler schon immer – und die Käufer. Einst investierten die klevischen Herzöge ihr Vermögen, später traten wohlhabende Textilfabrikanten aus Krefeld und Mönchengladbach an ihre Stelle. Auch das Kurbad in Kleve zog kunstsinnige Menschen an. Nicht zu vergessen: Amsterdam und Köln liegen nur wenige Stunden entfernt. Bis heute profitiert der Niederrhein von diesem Erbe. Auf engem Raum entführen diverse Museen den Besucher in fremde, anregende Welten.

Keine Industrie verschandelt das Land. Mitunter herrscht eine Stille, die in den Ohren rauscht: Kirchtürme als Landmarken hinter Baumgruppen, Rinder in brusthohem Gras. Straßen, die „Dingdung“ oder „Im Winkel“ heißen. Die Menschen – sie heißen meist Janssen oder Jansen – fahren viel Fahrrad und beenden ihre Sätze gern mit einem kräftigen „jou“. Wenn sie irgendwo in der Weite auf den Bus warten, hocken sie sich mitunter auf ein mitgebrachtes Klappstühlchen. In der Kneipe trinken sie Kaffee mit einem Schuss Likör darin. Ein Land, in dem Menschen ihre innere Ruhe finden.

„Für mich war der Niederrhein ein Neuanfang“, erzählt Maximilian Freiherr von Wendt, 63, Landschaftsplaner, aus einer „verbitterten Nebenlinie“ seines Geschlechts, also ohne Reichtümer. Er kam in den siebziger Jahren aus Düsseldorf, auf der Suche nach einer Kate irgendwo auf dem Acker, als er sein „Dornröschenschloss“ fand: Burg Boetzelaer bei Kalkar, am Boetzelaerer Meer, einem Altwasserarm. Eigentlich ein efeubedeckter Haufen Bruch, für den Adligen aber „Luft zum Atmen, ein Lebensgefühl“. Mit eigenen Händen baute er zunächst das Kutscherhaus wieder auf. Heute ist die Burg ein Hotel, der Turm des Kutscherhauses eine Suite. Und immer noch stellt sich von Wendt jeden Morgen um sieben Uhr in den Garten unter den Walnussbaum. Hasen wetzen durchs Gras, hechten über Maulwurfskegel. Er sieht seine Burg im flachen Ostlicht schimmern, eine „steingewordene Haltung“. Jede Mode perlt ab an diesem offenen Haus, in dem Dünkel keinen Platz findet. „Ich mag es, wenn nicht alles so geleckt ist“, sagt von Wendt. „Das passt auch gut zum Niederrhein. Der wirkt ja oft wie ein großer, etwas wilder Park.“

Noch immer ist das Land katholisch geprägt, und doch liegt die Religion nicht bleischwer auf dem Land. In Kevelaer, dem nach Altötting zweitgrößten Wallfahrtsort Deutschlands, ziehen die Gläubigen mit lachenden Gesichtern zur Gnadenkapelle, schießen noch schnell ein Foto mit dem Handy, bevor sie sich in der Stadt mit der vermutlich höchsten Kaffeehausdichte der Welt ihren Kuchen schmecken lassen. Kevelaer spricht deutsch und niederländisch – und macht gute Geschäfte mit dem Glauben. In der Devotionalienhandlung „Trudi Jacobs“ am Kapellenplatz verkauft Ursula Ingenpash fingergroße Marientröster und Heiligenmagneten für das Armaturenbrett. „Ohne Wallfahrt wär’ hier nichts“, sagt sie: „Aber stellen Sie sich vor: Eben wollte eine Kundin auf eine Kerze 20 Prozent Rabatt. Ich dachte, ich glaub’s nicht.“

Die Pilger hoffen in der Gnadenkapelle von Kevelaer auf Wunder. Der weltlich Reisende findet sie in dieser Gegend allerorten – am Himmel. Nichts lenkt ab von der gigantischen Bühne, die sich von einer Minute zur anderen verfinstert oder aufhellt, die das Land immer wieder neu einfärbt mit Streifen aus Gold und Grau. Auf ihr kann man das Wetter kommen sehen, weil da nichts ist, was die Sicht beschränkt. Wo hinter Sonnenbänken Regentropfen fallen, wo die Wolken höllische Monster oder paradiesische Schäfchen formen, wo alles auf einmal zu bestaunen und im nächsten Moment wieder alles ganz anders ist.

Die Menschen am Niederrhein nutzen ihren Wasserreichtum, um Schönheit zu schaffen. Die Fürsten von damals legten Parks rund um ihre Schlösser an, die bis heute nichts von ihrer Pracht eingebüßt haben – Idealbilder einer Landschaft, dreidimensionale Gemälde. Die Menschen von heute zieren ihre Gehöfte und Einfamilienhäuser mit vielfarbigen Gärten. „Gärtnern ist wie Malen“, sagt Manfred Lucenz: „Mein Bild ist der Garten.“ Das Kunstwerk, das er zusammen mit seinem Lebensgefährten Klaus Bender geschaffen hat, zeigt der Hauptschullehrer auf 4000 Quadratmetern rund um sein Haus in Schneppenbaum. Hartriegel, Taschentuchbaum, Schneeglöckchen, Kolkwitzie – jede Jahreszeit hat ihre Blüten. Lucenz liebt den Geruch der Erde an seinen Fingern und den Duft der überreifen Pflaumen im Gras. Er kann zwischen kaltem und wachswarmem Regen unterscheiden, kennt die gute und die brennende Sonne. Mittlerweile kommen Hobbygärtner nach Schneppenbaum, um Lucenz’ Werk zu besichtigen. Sie ziehen weiter zu anderen Privatgärten, die Besuchern offen stehen. In ihnen wollen sie sich wie Manfred Lucenz „ausklinken aus dem Mouseklick-Zeitalter“.

Das menschliche Maß – auch das ist es, was den Niederrhein für den Reisenden zu einem lohnenden Ziel macht. Das Land erschlägt ihn nicht mit Lieblichkeit, sondern stärkt ihn mit seiner Kraft. Es lässt ihn sich selbst spüren, wenn er friert in Morgendunst oder nasskaltem Wind, wenn er sich kurz darauf den Rücken in der Sonne wärmt. Es nimmt ihn gefangen, wenn er durch Felder fährt, so hoch gewachsen, dass sonst nichts als der Himmel ist. Wenn die Sonnenstrahlen in der Luft stehen, sodass man meint, sie anfassen zu können. Wenn die Luft nach frisch gemähtem Gras duftet, Kartoffelfeuer den Appetit wecken und das Geschrei der Wildgänse weit durch die Niederungen hallt.

Wer durch diese Landschaft fährt, ist für sich, aber doch nie allein. Auch das ist ein Erbe vergangener Tage. Mächtige Bauernhöfe prägen den Niederrhein, hier ist kein Platz für endlose Monokulturen oder gigantische Sauställe mit ein paar tausend Viechern. Viele Bauern in der Region haben auf Bio umgestellt oder verkaufen ihre Schätze direkt auf dem Hof. „Fleisch von Tieren, die keinen Stress kennen, und das nicht in der Pfanne zusammenschnurrt – das machen wir hier“, sagt Hannes von Heimendahl. Er ist 33 und Chef von Gut Heimendahl bei Kempen. Einst handelte die Familie mit Samt und Seide – bis der Krieg die Firma ruinierte.

Hannes von Heimendahl hat Landwirt gelernt und Jura studiert, jetzt betreibt er „Landwirtschaft im Einklang mit der Natur“. Auf der fruchtbaren Kempener Platte wachsen Kohl, Kartoffeln, Rüben und Weihnachtsbäume, in den Ställen gackern „Westfälische Totleger“ und „Araucaner“, die Bio-Eier legen. Aus den Schwarzkopfschafen macht der hofeigene Metzger Wurst und Braten – 300 Tiere zählt der Bestand. In seinem großen Hofladen hinter dem weiß gestrichenen Torhaus verkauft von Heimendahl auch Marmeladen, Nudeln und Schafwollsocken. Gerade erst hat er eine Walnussallee gepflanzt. „Für die nächste Generation, damit die hier auch groß werden kann und was Schönes zu gucken hat.“ Manchmal, sagt Hannes von Heimendahl, sei das Gut schon eine Last. „Aber in Düsseldorf unter einer Neonröhre sitzen, das wäre nichts für mich.“ Um ihn herum dampft die Erde den frisch gefallenen Regen aus.

Ist er ein Lebenskünstler? Vielleicht. Auf jeden Fall hat er ein Gespür für das, was gut tut: die Übersicht behalten, selbst entscheiden – so sind die Leute am Niederrhein. Es ist kein Zufall, dass gerade hier ein Kunstsammler ein Museum errichtet hat, wie es in Deutschland kein zweites gibt.

Die Museumsinsel Hombroich ist ein verwunschenes Stück Land ganz im Süden des Niederrheins, umgeben von Äckern und wilden Büschen, umschlungen von der schmalen Erft, einem Nebenarm des Rheins. Es gibt keine Absperrungen hier und keine Alarmanlagen, dafür im Gelände versteckt streng geformte Pavillons, bestückt mit abstrakten Figuren, Malerei von gestern und heute, antiken Tonpferden und Skulpturen aus Asien. Manche der Pavillons stehen einfach leer, bilden nur den Rahmen für das wundersame Bild, das die Natur selbst hinter den Glasscheiben bietet. Ein Platz auch für Künstler und ihre Werkstätten, wo ein Mensch wie Anatol Herzfeld nach Herzenslust Stahlplatten zerschneiden und zu mannsgroßen, rittergleichen „Verkündern“ zusammenschweißen darf.

Der pensionierte Polizist, 77, mit einer lebenslangen Neigung zur Kunst, spürt jeden Tag, wie dieses Stück Niederrhein die Menschen verändert. Wie sie still werden, mit den Händen durchs Gras greifen, an Hagebutten, Sumpfgras und Birnen schnuppern. Wie achtsam sie sind. „Niemand schmeißt irgendwo irgendwas hin, und noch nie ist etwas geklaut worden“, sagt Herzfeld, in Blaumann und mit Wollmütze. Manchmal helfen ihm Besucher, wenn er eine Eisenplatte nicht selbst heben kann. Für den Künstler ist das alles ganz selbstverständlich auf dieser Insel.

Anatol Herzfeld stapft durch die Wiese, hin zu seinen ehernen „Verkündern“. Er hat Birken gepflanzt, dort am Ufer der Erft, und sie sind schon recht groß geworden. Herzfeld sagt: „Jeder Mensch braucht einen Platz, den er vollkommen ausfüllt.“ Am Niederrhein ist wirklich genug davon da.

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