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brand eins, April 2005                                                                                                       zurück zur Übersicht

Verbuchte Arbeit

Erst war der Gestank. Dann war nichts mehr. Jetzt ist dortDeutschlands erstes Buchdorf. Arbeiter zu Antiquaren, das könnte die Zukunft sein für Mühlbeck-Friedersdorf bei Bitterfeld. Wenn sie durchhalten.

Die Gründerin trägt eine Strickjacke. Um sie herum viele Worte, Tausende, Millionen: Bücher, acht Reihen hoch, Regale an den Wänden, auch mitten im Raum und im nächsten und im übernächsten. Dahinter weißeln die Bauarbeiter gerade weitere vier Wände, damit auch die endlich hinter Buchstaben verschwinden können. Die Gründerin wuchtet eine Bananenkiste auf den hellen Holztisch. „So ein Bücherkarton wiegt 23 Kilogramm“, sagt Heidemarie Dehne, 62, Brille, kurze graue Haare. Andere in ihrem Alter sind schon im Vorruhestand. „Das hier ist nichts für Aussteiger, die gerne lesen.“

Das hier war anfangs nur eine fixe Idee. Die setzte sich in Köpfen fest, um in Aktion und Menschen in Bewegung. So entstand das erste Buchdorf Deutschlands, in Mühlbeck-Friedersdorf, Sachsen-Anhalt, vier Kilometer vor der Stadtgrenze Bitterfelds. Der Bücher-ConSum von Heidemarie Dehne im Ortsteil Mühlbeck ist die Keimzelle der Bewegung, das pochende Herz, der Muskel, der die Maschine treibt, 55.000 Bücher schwer.

Buchdorf? Was ist das denn? Formal gesehen ist ein Buchdorf ein Dorf mit Büchern. Mit alten Büchern, wertvollen, zerlesenen, Raritäten und Ramsch. Die man in Antiquariaten kaufen kann, so wie in Mühlbeck mit seinen knapp 1000 Bewohnern, dessen Häuser sich um den hübschen Dorfteich gruppieren, um die gepflegte alte Feldsteinkirche mit dem Friedhof nebenan. Es gibt inzwischen 13 Antiquariate in Mühlbeck, zwei in Friedersdorf und insgesamt rund 500.000 Bücher.

Auf dem Mühlbecker Friedhof kann man sehen, warum die Bücher mehr sind als eine nette Sache ohne größere Bedeutung. Die Blumen auf den Gräbern sind gepflegt, mit fein gezinkten Harken haben die alten Mühlbecker ihre Rechtecke um die Toten gekratzt. „Kommen Sie mal mit“, sagt eine ältere Dame, „gucken Sie mal.“ Sie zeigt auf ein Stück Wiese neben der Kirche. Keine Kreuze, keine Blumen. „Da lassen die jungen Leute heute ihre Toten begraben, in der Urne. Aber wie sollen sie auch Gräber pflegen? Sie wohnen ja längst woanders.“

Die Bücher sollen das Dorf retten. Während andere von Autobahnen, Industrieparks und Chip-Fabriken träumen, bauen die Mühlbecker und ihre Anrainer mit altem Papier an der Zukunft. Sie wollen Leser in ihr Dorf bringen, Käufer, Geld also, Arbeit, einen Sinn im Leben. Etwas, dass das Leben lohnt, in einer der hoffnungslosesten Regionen Deutschlands. Sie haben’s ganz schön schwer. Aber damit sind sie nicht allein.

Der Landkreis Bitterfeld ist geschundenes Land. 510 Quadratkilometer groß, mit 94.000 Einwohnern in sechs Städten und 39 Gemeinden. Ein Drittel der Fläche ist umgepflügt und ausgefressen von Braunkohlebaggern, voll toter Löcher, die sich langsam mit Wasser füllen und ein attraktives Seengebiet werden sollen. Die chemische Industrie um Bitterfeld und Wolfen hat 100 Jahre lang das Land verpestet, so, dass weiße Wäsche über Nacht grau wurde, ließ man sie draußen trocknen. Scharfe, süße, faule Gerüche wehten übers Land und ätzten die Lungen der Bewohner.

Das ist vorbei seit der Wende, seitdem die großen Kombinate Geschichte sind. Die Chemie von heute ist kleiner und stinkt nicht mehr. Nur: Arbeit gibt es auch nicht mehr. Von 70.000 Arbeitsplätzen in der Region sind 25.000 geblieben. Bitterfeld verlor ein Siebtel seiner Bewohner, in Wolfen reißen sie Hochhauskomplexe ab, weil sich die Bevölkerung auf 26.000 Einwohner fast halbiert hat.

Als Heidemarie Dehne 1996 nach Mühlbeck kam, demontierten die Mühlbecker in Bitterfeld, Wolfen und den Tagebaulöchern gerade ihre alten Arbeitsplätze. Für Heidemarie Dehne war das genau der richtige Moment. „Ein Buchdorf funktioniert nur dort, wo der Leidensdruck groß und sonst nichts los ist, wo nichts ablenkt. Und auch nur, wenn der Ort Charme hat.“ Dehne kommt aus Köln. Sie leitete mal einen Buchclub, verkaufte Kerzen und Körbe im eigenen Laden. Nichts Großes, aber etwas Eigenes. Als der Osten zusammenbrach, wollte sie unbedingt dorthin. „Ich wollte immer wissen, was hinter der Grenze liegt. Ich wusste nicht, wie Ossiland ist.“

Sie nimmt in Bitterfeld eine Stelle an und verwaltet ein katholisches Seniorenheim. Die Protestantin bekommt die Stelle nur, weil niemand sonst den Posten will. Nach anderthalb Jahren ist Schluss, aber das macht nichts, denn inzwischen hat sie eine Idee. Sie hat in der Zeitung von Hay-on-Wye gelesen, dem ersten Buchdorf der Welt, fernab von allem, in Wales. Sie las von Richard Booth, einem leicht exzentrischen Oxford-Absolventen, der 1961 einen Container Bücher aus New York nach Hay schaffte und dort das erste Antiquariat eröffnete. Sie las von den nunmehr 38 Buchläden im 2000-Einwohner-Städtchen und auch darüber, dass dort Menschen ein Auskommen finden, indem sie beispielsweise ausschließlich Bücher über Boxen oder Bienenzucht verkaufen. Sie las vom größten Buchfestival der Welt und von Touristenschwärmen, die vor allem im Sommer in Hay einfallen.

„Das muss doch auch hier funktionieren“, dachte sich Heidemarie Dehne. So wie im belgischen Redu, das sich 1984 zum Buchdorf erklärte. Wie im niederländischen Bredevoort, in dem 26 Buchläden existieren. Wie im norwegischen Fjaerland, das seit 1996 Buchdorf ist, so weit ab vom Schuss, dass man es bis Mitte der achtziger Jahre nur mit dem Boot erreichen konnte. Wie in Sysmä, Vötikvere und Montmorillion, wie in den 22 anderen Buchdörfern Europas, die mit gedruckten Wörtern dem wirtschaftlichen Niedergang trotzen.

Masse macht’s: Wo es so viele Bücher gibt, findet man auch Sammlerstücke

Die Geschichte des Buchdorfes Mühlbeck-Friedersdorf ist eine Geschichte der Zufälle und der Beweis, dass ungewöhnliche Ideen meist erst dann eine Chance haben, wenn es keine Alternative gibt. „Hätte ich nicht eine Woche vor Frau Dehnes Besuch im Fernsehen einen Bericht über Redu gesehen“, sagt Mühlbecks Bürgermeister Bernd Hieronymus, „hätte ich ihr wohl nicht so schnell den Zuschlag gegeben.“ Gäbe es genug Kinder in Mühl-beck, stünde die Schule nicht leer. Und im Pfarramt wäre noch heute Betrieb, wäre der Pfarrer nicht schon 1991 als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt worden. Es hätte einfach keinen Platz gegeben für all die Bücher, die heute dort auf Käufer warten.

Heidemarie Dehne musste nicht groß werben für ihre Idee. Die offizielle Arbeitslosenquote in der Region lag schon damals bei rund 20 Prozent, diejenigen, die sich irgendwie durchwursteln, werden heute noch nicht erfasst. Mundpropaganda reichte aus, damit sich sieben Leute aus Mühlbeck und Umgebung fanden, um den Anfang zu machen. Ein Anfang ohne Businessplan und Ankaufsbudget. Es ist eine dieser raren Möglichkeiten, ohne Investitionskapital ein Geschäft zu starten. Und Bücher? Ja, warum nicht Bücher? Wer liest, hat es gern ruhig. Und Ruhe gibt es in Mühlbeck genug.

Sie fragen bei Bekannten nach alten Büchern, die Bekannten fragen Freunde. Sie sichern sich die Bücher aus den stillgelegten Kombinatsbibliotheken ringsum. Auf dem Kirchentag in Leipzig verteilen sie 20.000 Handzettel mit der Bitte um Bücher. Schließlich fahren sie mit einem Lkw durch Deutschland und verladen, was andere nicht mehr brauchen. In der Schule ziehen sie Regale hoch und räumen ein. 70.000 Bände sind der Anfang.

Es ist ein Anfang gegen jeden Markttrend: Das Geschäft mit alten Büchern verlagert sich zunehmend ins Internet. „Ladenlokale können kaum mehr die Mieten erwirtschaften“, sagt Götz Kocher-Benzing vom Verband deutscher Antiquare, „nur hochpreisig läuft ganz gut.“ In ganz Deutschland, schätzt es, gibt es vielleicht noch 1500 Antiquariate. Doch die Mühlbecker füllen von Anfang durch schiere Masse eine Marktlücke. „Wo kriegen Sie denn noch eine Reparaturanleitung für eine alte Kawasaki?“, fragt Heidemarie Dehne. Wo es alles gibt, findet man neben der immer guten Massenware auch seltene Sachen. Vor allem, wenn so viel auf einem Haufen angeboten wird.

Sie wollen es professionell machen. Sie öffnen an sieben Tagen die Woche, bis 20 Uhr. Sie spezialisieren sich auf bestimmte Fachgebiete: Belletristik, Kochen, Geschichte, Sprachen, Schallplatten, Philosophie. Sie gründen einen Förderverein, der sich ums Marketing kümmert, damit sie in jedem Reiseführer stehen und Hinweisschilder am Ortsrand aufmerksam machen auf die Bücher. Die Idee zieht Kreise, das Buchdorf spricht sich herum. Käufer aus ganz Deutschland kommen, weitere Antiquare schließen sich an. Er liegt eigentlich auch nicht schlecht, dieser Ort in der ehemaligen Chemie-Wüste der DDR. Von Halle und Leipzig ist man schnell da, die A9 ist nah.

Mühlbeck wird zum Vorzeigedorf. Aus Mitteln der Expo 2000 werden die Straßen neu gepflastert und der Ortskern saniert, inklusive neuer Abwasserrohre. Das Regierungspräsidium spendiert auch ein bisschen Geld für die „Showfenster“: Einmal im Monat wird vorgelesen, gesungen oder debattiert.

Heidemarie Dehne spricht auf Kongressen über nachhaltige Entwicklung und über ihr Buchdorf. Trotzdem wirkt die Idee immer noch bizarr. „Im Grunde ist das völlig verrückt, komplett irrational“, sagt Joachim Borner, Geschäftsführer des Kollegs für Management und Gestaltung nachhaltiger Entwicklung (KMGNE) in Berlin. „Ein Buchdorf in einer Region, in der es noch nie Kultur gab, wo die Leute einfach nur volle Kanne arbeiten gingen.“ Borner beobachtet das Projekt seit Jahren voller Hochachtung. „Der wirtschaftliche Erfolg ist noch nicht abschätzbar. Es ist eine Entwicklung neben den Verwaltungsstrukturen.“

Wenn Bürger die Initiative ergreifen, gibt’s kein Geld, keine Schilder, nicht mal freundliche Worte

Allerdings gilt das Buchdorf nicht als hypermodern – und das nagt an den Dörflern. Kompetenzzentrum, Technologiezentrum, Innovationskern – alle Schlagworte der Wirtschaftsförderer treffen auf sie nicht zu. Sie sind bloß die, die alte Bücher verhökern. Sie haben keine innovativen Produkte, sondern nur eine Idee davon, was man machen kann, wenn man sonst nichts machen kann. Während man woanders ein weiteres Gewerbegebiet ausweist. Und dann noch eines.

Sobald die Expo vorbei ist, lässt sich kaum noch ein Offizieller in Mühlbeck-Friedersdorf blicken. Und Geld von auswärts gibt es auch nicht mehr. Offizielle Hinweisschilder an den Zufahrtsstraßen werden abgelehnt, weil die braunen nur für Museen gelten, die grünen nur für Gaststätten und das Buchdorf keines von beidem ist. Dafür gibt es Ärger wegen der Öffnungszeiten am Sonntag. Heidemarie Dehne fängt sich zwei Anzeigen ein, die sie großzügig ignoriert. Die anderen Antiquare in Mühlbeck hingegen wollen kein Risiko eingehen. „Es gibt eben Spielregeln, an die man sich halten muss“, sagt Olaf Löbel, der Wirt im Ort und einer der Gründer des Buchdorfes.

Es kommt zu Rissen im Gefüge der Buchdörfler. Jeder öffnet, wann er will, sodass der Besucher mitunter vor geschlossenen Geschäften steht. So kann das Konzept, dass sich jeder Händler auf bestimmte Sachgebiete konzentriert, nicht mehr aufrechterhalten werden. Jeder Händler hortet alles, jeder macht jedem Konkurrenz. Früher haben sie angekaufte Bücher untereinander getauscht, nun kämpft jeder für sich. Aus dem Buchdorf als Ganzes droht eine Ansammlung von Antiquariaten zu werden.

„Wir sind wohl an einem toten Punkt angekommen“, sagt Heike Littke. Die Wintersonne scheint durchs Fenster. Die ehemalige Stadtbibliothekarin aus dem benachbarten Bad Schmiedeberg führt ihr Antiquariat in der Mühlbecker Alten Schmiede seit 1997. Sie sagt, sie könne davon leben. „Ich dachte, wir bekommen mehr Unterstützung“, sagt Littke, „aber in Bitterfeld heißt es immer: ‚Wenn ihr in Mühlbeck eine richtige Wirtschaftskraft seid, dann tun wir was für euch‘.“ Es ist die typische Wenn-dann-Falle. So macht man noch jede Initiative kaputt.

Aber so geht es nicht nur den Leuten in Mühlbeck-Friedersdorf. Rolf Walther ist Geschäftsführer der Initiative Dessau – Arbeit für Anhalt, einem Zusammenschluss von Privatleuten, Firmen und Kirchen. Ihr Motto: „Eine Region hilft sich selbst.“ Rolf Walther sagt: „Industrieansiedlungen lösen unser Problem nicht.“ Die Initiative organisiert Mentorenprogramme für Existenzgründer, trainiert angehende Touristiker, forscht nach Absatzmöglichkeiten für Firmen aus der Region, unterhält eine Holzwerkstatt und hilft bei der Organisation selbstverwalteter Betriebe.

„Man kann auch mit Kultur Arbeitsplätze schaffen“, meint Walther. Die Initiative hat versucht, für Touristen altes Handwerk wie die Seifensiederei wieder anzusiedeln, arbeitete sich an Thea-terfestivals ab und an Freilichtmuseen. Geld vom Land gab es dafür keins. „Kulturstadt ist Wittenberg, hieß es immer“, sagt Walther. „Da will sich keiner Konkurrenz ranzüchten.“ In Zeiten knapper Kassen bleibt wenig Raum für Experimente. „Was nicht sofort was bringt, hat keine Chance.“

Dabei ist das eigentliche Problem, dass eine solche Politik auf jeden einzelnen Bürger abfärbt. Walther spürt das jeden Tag, etwa wenn er versucht, Firmen für einen Ausbildungsverbund zu gewinnen. „Da fragt der Chef zuerst, ob wir auch Geld mitbringen.“ Geld hat Walther aber nicht zu bieten, nur einen Weg in die Zukunft – und damit blitzt er häufig ab. „Es hat sich eine Fördermentalität breit gemacht. Dabei wird ohne Kooperationen in dieser Region doch nix vorangehen.“

Kooperation heißt, die Dinge als Ganzes zu sehen, sich gegenseitig zu unterstützen, damit alle ein Stück vorankommen. Ko-operation heißt auch: Chancen erkennen. Das Problem ist bloß, dass es stets einen Zeitpunkt gibt, zu dem man glaubt, nein, weiß: Ich will nicht, ich kann nicht, es geht nicht. Dieser Moment kommt während jedes Gründungsprozesses, aber auch später erlebt man ihn immer wieder. Jeder weiß das eigentlich. Aber kaum jemand ist darauf vorbereitet. Und dann soll man sich auch noch mit anderen Leuten abstimmen? Daran hapert es zurzeit auch im Buchdorf Mühlbeck-Friedersdorf.

Die Zukunft als Ansichtssache: Die einen kennen sie schon vorher. Die anderen beeinflussen sie

Bürgermeister Bernd Hieronymus sitzt in seinem Zimmerchen oben im Pfarramt. „Ich habe gehofft, dass die Mühlbecker schneller mehr aus ihrem Buchdorf machen“, sagt der selbstständige Brennstoffhändler. Er fährt mit dem Zeigefinger durch einen 91 Seiten dicken Ordner, ein Konzept für den Tourismusstandort Mühlbeck. „Na ja“, sagt Hieronymus. Im Mühlbeck bekommt man heute nachmittags kein Stück Kuchen, und übernachten kann man nur bei Olaf Löbel. Oder ein Stückchen weiter in der Schwestergemeinde Friedersdorf. Die Antiquariate seien schon gut, meint Hieronymus. Doch er weiß: Zu einem Buchdorf gehört mehr. Cafés, Pensionen, wenigstens ein paar Privatzimmer. Mit der Industrie- und Handelskammer hat der Bürgermeister einen Kurs entwickelt, in dem man lernen kann, wie man eine Pension betreibt. Er hat dafür eine große Anzeige in der Zeitung geschaltet. „Aber es ist keiner gekommen“, sagt Hieronymus, „nicht einer.“

Warum? Will hier niemand Geld verdienen? „Die Leute glauben einfach nicht, dass man vom Buchdorf leben kann.“ Aber warum? Die jetzigen Pensionsbetreiber haben Gäste. Und muss man nicht erst mal ein Angebot schaffen, von dem man profitieren will? „Ich verstehe es auch nicht“, sagt Hieronymus. „Sich selbstständig zu machen, nach 40 Jahren DDR, kriegt man nicht so einfach in die Köpfe.“ Vielleicht kann er in diesem Moment nur denken, was Joachim Borner vom KMGNE später sagen wird: „Das ist der soziale Absturz, diese Bergbau-Mentalität. Die waren in der DDR immer die ganz Tollen, vorher auch schon. Und nun sollen sie Kuchen servieren?“

Bernd Hieronymus schweigt und holt eine Landkarte aus dem Schrank. Rechts ein gefluteter Tagebau, links noch einer, in der Mitte Mühlbeck. In zwei bis drei Jahren werden die Restlöcher gefüllt sein, Segler sollen dann im kleinen Hafen von Mühlbeck anlegen und Touristen ins Dorf bringen. Dann, in zwei bis drei Jahren, hofft Hieronymus, werden mehr Mühlbecker aktiv werden. Der momentane tote Punkt werde überwunden. Es ist merkwürdig: Seit Gründung des Buchdorfes hat kein Antiquar aus geschäftlichen Gründen aufgegeben, die Anzahl der Geschäfte ist stetig gewachsen. Die große Flut im Jahr 2002 haben sie überstanden, obwohl kaum Käufer kamen, im Glauben, das Buchdorf sei abgesoffen. Mittlerweile reisen im Jahr rund 20.000 Besucher nach Mühlbeck. Heidemarie Dehne sagt, sie mache mit ihrem Bücher-ConSum im ehemaligen Dorfladen rund 70.000 Euro Umsatz im Jahr, mit etwa 8000 verkauften Büchern.

Vielleicht sind die Erwartungen zu hoch. Heidemarie Dehne hat sich keine Illusionen gemacht: „Ich habe nie blühende Landschaften versprochen. Das hier ist ein richtig hartes Geschäft. Es braucht Leute mit Pioniergeist.“ Die 14 Stunden am Tag arbeiten. Kneipier Löbel sagt, dass das irische Buchdorf Hay auch 40 Jahre gebraucht hat, bis es wurde, was es heute ist.

Erst mal machen, dann mal sehen. So kämpft Heidemarie Dehne ihren Kampf gegen die Trägheit und das Schon-vorher-wissen-was-nachher-rauskommt, gegen die Angst, auch die eigene, und für Mühlbecks Platz auf dem Bücher-Markt. Seit Ende vergangenen Jahres stehen 22.000 Mühlbecker Bücher im Online-Shop des Dorfes. Von den zehn EU-finanzierten Frauen, die die Datenbank füllten, haben drei mit Dehnes Hilfe eigene Läden aufgemacht. Zu den drei Lehrlingen, die sie seit mehr als einem Jahr ausbildet, sind drei Angestellte mit unbefristeten Verträgen hinzugekommen. Eben hat Dehne zwei neue Geschäfte eröffnet. Es gibt Buchdorf-Postkarten, -Aufkleber und -Schmuckvignetten. Im Sommer wird sie im eigenen Café Kuchen servieren.

Mittlerweile lernt Dehne mit ihren Kolleginnen Gebärdensprache. Rund 7500 Gehörlose leben in Sachsen-Anhalt. Wer ihre Sprache spricht, hat gute Chancen, sie auch als Kunden zu gewinnen. Natürlich nur, wenn man überhaupt auf die Idee kommt.

Heidemarie Dehne sieht die Fortschritte in Mühlbeck. Sie erkennt, dass die Antiquare mit ihren geringen Mieten die alte Schule und das Pfarramt vor dem Verfall retten, weil die Unkosten gedeckt sind. Dass die Grundstückspreise in Mühlbeck nicht verfallen. Dass mehr Kinder in den Kindergarten kommen, weil sich wieder Familien ansiedeln. Dass es im Buchdorf neben der Straße des Friedens und der Karl-Marx-Straße nun einen Pergamentweg gibt und eine Gutenbergstraße. Dass der Germanistik-Professor aus Yale so begeistert war, dass er nächstes Jahr noch ein paar Kisten kaufen will. Dass sich mittlerweile 3500 Kunden mit einer Suchanfrage haben registrieren lassen. Vielleicht kommen bald auch Touristen in die Gegend, zum Segeln etwa. Zum Tagebaubaggergucken. Oder einfach zum Lesen.

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