| brand eins, September 2005                                                                                             zurück zur Übersicht Alle Hände voll zu tun Handarbeit hat in Deutschland keine  Zukunft. Heißt es.Glücklicherweise gibt es  Unternehmer, die sich darum nicht scheren. Drei Beispiele.
   Kleidung für Mann und Frau, Köln Ute Winkel  ist Romantikerin, Karola Eisenberg dagegen eher streng. „Ich mag keine Röcke,  Ute trägt niemals Hosen“, sagt Karola Eisenberg. „Wir ergänzen uns gut.“  Zusammen haben Winkel und Eisenberg „Kleidung für Mann & Frau“ gegründet:  Rund 40 Quadratmeter Anzüge, Kleider, Röcke, Hemden und T-Shirts im Belgischen  Viertel in Köln, Antwerpener Ecke Brüsseler Straße. Ein Esoterik-Buchladen  konnte hier nicht überleben, das Duo ist schon seit acht Jahren da. Winkel und  Eisenberg verkaufen eigene Entwürfe, die sie in Köln nähen lassen. Nirgends  sonst. Die Designerinnen verwenden feine und ökologisch korrekte Stoffe; Ware  aus Kinderarbeit lehnen sie ab. T-Shirts bekommt man für 50 Euro, Hosen für 150  Euro, Anzüge kosten um die 400 Euro. Das ist nicht billig. Aber man kann  ähnliche oder schlechtere Qualität auch doppelt so teuer kaufen. Läden wie  dieser werden üblicherweise ein paar Monate nach der Eröffnung wieder  geschlossen, weil sie sich nicht rechnen. Günstige Klamotten für den Alltag und  teure Markenware fürs Besondere – so kauft man in Deutschland gemeinhin  Kleidung. Die an dieser Haltung gescheiterten Produzenten und Einzelhändler  kann niemand mehr zählen, nicht nur in Köln. Tatsache  ist: Wer in Deutschland Qualität produziert, hat höhere Kosten. Wer die nicht  über fantastische Markenpreise wieder reinholen kann, braucht ordentlich  Kundschaft. Bei Winkel und Eisenberg machen die Näharbeiten ein Viertel des  Verkaufspreises aus. Den einfachen Weg zu nehmen und in den Osten zu gehen,  käme den Unternehmerinnen trotzdem nicht in den Sinn. Früher hat Ute Winkel für  den Großhandel Mode entworfen, schon damals war ihre Produktion in Deutschland.  „Hier habe ich alles unter Kontrolle“, sagt sie. „Es gibt keine Zölle und die  Qualität stimmt.“ Das sei  auch eine Frage der Haltung: „Wir können hier gut leben“, sagt Ute Winkel, „und  geben Menschen hier Arbeit. Das ist eine runde Sache. So zu arbeiten macht  Spaß.“ Es macht aber auch Arbeit. Einfach ein paar Klamotten auf die Stange zu  hängen und abzuwarten reicht nicht. „Wir wollen die Leute an uns binden“, sagt  Ute Winkel. Wie das  geht? Es ist eine feine Mischung aus Beratung und einem Gespür dafür, was zum  einzelnen Kunden passt – eine Mischung aus dem, was geht und was nicht geht.  Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Kleidung wird von Menschen gekauft, und  die sind unterschiedlich, sie passen nicht immer in vorgegebene  Konfektionsmaße. Doch wer aus dieser Norm fällt, kann in den meisten  Modegeschäften gleich wieder gehen: Dort muss der Mensch zum Angebot passen,  nicht das Angebot zu ihm. Bei Kleidung  für Mann & Frau soll es anders sein. „Jeder vierte Kunde braucht sein  eigenes Maß“, sagt Winkel, „da muss man doch etwas tun.“ Ein bisschen den Saum  rauslassen oder die Ärmel kürzen machen alle. Doch bei Winkel und Eisenberg  geht mehr: Sie nähen bei Bedarf das ganze Stück neu, den Rock, die Hose, das  Hemd, im individuellen Maß, zum üblichen Preis. Hier muss auch niemand einen  ganzen Anzug kaufen – wer will, kann Hose und Sakko aus unterschiedlichen  Größen wählen. Aber ist  das alles nicht zu teuer? Wo bleibt der Mengenvorteil? Bringt das nicht alles  durcheinander? Bleiben die Frauen nicht auf halben Anzügen sitzen? „Nein“, sagt  Ute Winkel, „das verkauft sich schon.“ Vielleicht muss man erst mal so  arbeiten, um das zu verstehen. Soweit zu  dem, was geht. Genauso wichtig ist, was nicht geht. Reine Maßanfertigung wäre  viel zu teuer und damit unverkäuflich, denn wer kennt schon die Marke Winkel  und Eisenberg – der Laden muss im Fluss bleiben. „Wir erfüllen keine  Sonderwünsche“, sagt Karola Eisenberg. „Hier noch eine Tasche, da noch ein  Knopf – nicht mit uns. Damit verwässern wir auch unser Design.“ Aber muss man  in diesen Zeiten nicht alles für seine Kunden tun? „Der Punkt ist: Wir wollen  das nicht“, sagt Ute Winkel. Maßkunden schickt sie lieber zur Kollegin um die  Ecke. Die Balance  halten, Acht geben, auf das, was man selbst will und das Gegenüber – das ist  der Weg von Winkel und Eisenberg. Sich nicht verzetteln mit Dingen, die nicht  zum Kerngeschäft gehören. Aber auch nicht buckeln vor den Kunden, ihnen etwas  aufschwatzen oder Intimität vorgaukeln. „Bei uns wird nicht geduzt“, sagt  Winkel, „für unsere Arbeit braucht es Distanz.“ Wie soll man sonst einer Kundin  von einem Stück abraten, das ihr nicht steht? Trotzdem kann eine Anprobe, wenn  es sein muss, drei Stunden dauern, da wird der Saum, wenn es sein muss, auch  zehnmal umgesteckt. „Das ist unser Job“, sagt Winkel, „das bindet die Leute.“  Nicht pseudofreundliches Geplapper über Gott, die Welt und den Ehemann. Obwohl  so ein kleiner Laden zum Schwatzen verführt. „Man muss auch mal streng werden“,  meint Ute Winkel. „Ich bin keine Psychologin. Ich bin Schneiderin.“ Selbstverständlich  mussten sie viel lernen. Ihr erstes Geschäft sah aus wie eine typische moderne  Boutique: edel, mit zwei langen Kleiderstangen. Das sah zwar gut aus, schreckte  die Leute aber ab. Im jetzigen Laden können Kinder über den Holzboden wetzen  und spielen. Sie haben  auch gedacht, es würde reichen, wenn sie nur ihre eigenen Sachen verkaufen.  Doch wer an seinen Kunden denkt und nicht nur an die eigenen Entwürfe, erkennt,  dass der Kunde auch etwas braucht, das er unter dem Jackett tragen kann. Aber  man kann nicht alles selbst machen. Oder will es nicht. „Ich spüre keine  Ambitionen für Pullover“, sagt Karola Eisenberg. Also haben sie die Angebotslücken  mit Fremdanbietern gestopft. „Wir wollen die Leute nicht durch dutzende  Geschäfte schicken“, sagt sie. „Wir hängen Kombinationen auf, um es ihnen  leichter zu machen. Die Leute beschäftigen sich nicht ausschließlich mit Mode.“ Offenbar  machen Winkel und Eisenberg vieles richtig – sie krebsen jedenfalls nicht am  Existenzminimum herum. Rund 300 Stammkunden, die gut drei Viertel des Umsatzes  bringen, haben sie  in ihrem Buch. Für die brauchen sie auch keine Rabat-te, Ausverkäufe und  Weihnachtsaktionen – Stammkunden fordern so etwas selten. Hinzu kommt ein  einfacher Gedanke. Karola Eisenberg: „Wer viel kauft und zwei Monate später  alles günstiger bekäme, der fühlt sich verarscht.“ Teures  Marketing brauchen Eisenberg und Winkel nicht. Zu Weihnachten verschicken sie  Karten, und wenn es etwas Neues im Laden gibt, rufen sie an. „Wir kümmern uns  lieber um die vorhandenen Kunden, statt neue zu keulen“, sagt Ute Winkel. „Wir  leben schließlich nicht für den Herzinfarkt.“ Die Messermanufaktur Güde, Solingen Dass es das  noch gibt! Ein Rohling, ein Stück Stahl, in einer ölverschmierten Werkstatt.  Ein Arbeiter steckt ihn in die Schleifmaschine. Später packt er ihn in eine  weitere Schleifmaschine. Danach schleift ein Kollege das Stück an einem  Schleifband an allen später sichtbaren Stellen blank. Ein weiterer Kollege  macht in der Zeit die hölzernen Griffschalen fertig. Einen Holzschemel weiter  nietet einer Holz und Stahl zu einem Messer zusammen. Und gibt es weiter zum  Nietenschleifer. Dann erledigt noch einer den Feinschliff, bevor am Schluss  eine Frau mit einem Lappen Öl und den grauen Schleifstaub abwischt und das  Blatt mit dem Fingernagel überprüft. Bei der  Messermanufaktur Güde wird ein Koch- oder Küchenmesser bis zu 60-mal angefasst,  bevor es fertig ist. Und das in Solingen, Deutschland, im Jahr 2005. Wenn es  fertig ist, kostet so ein Güde-Messer ab 30 Euro aufwärts. Kein Schnäppchen,  aber Industrieware ist nicht wesentlich günstiger, und ebenbürtige Messer kann  man auch für deutlich mehr Geld haben, aus Deutschland – oder aus Japan. Aber  Güde lebt. Wie kann das sein? Es heißt  gemeinhin, man müsse mit der Zeit gehen, um zu überleben. Güde dagegen ist  stehen geblieben. Und hat so viele Konkurrenten überdauert. „Wir wollen nicht  die Pflaume des Monats produzieren, die sich kurzfristig millionenfach  verkauft“, sagt Güde-Chef Karl Peter Born. „Langfristig ruinieren wir uns damit  nur.“ Borns Rezept für den unternehmerischen Erfolg als Handarbeits-Manufaktur  in Deutschland lautet: weglassen. Viel zu entwickeln gibt es bei Messern  ohnehin nicht mehr. Borns Opa Franz Güde erfand in den dreißiger Jahren noch  den Wellenschliff – diese Wellen zieren heute jedes Brotmesser. Seitdem  arbeiten sich Borns Konkurrenten an Nichtigkeiten ab. Hier eine neue  Klingenform, dort ein Spezialmesser. Ein Griff aus Plastikkomponenten, ein  Nippel zum Aufhängen. Auch bei Born präsentieren Designer neue Ideen. „Aber  alles viel zu kompliziert“, winkt Born ab. „Ergonomische Griffe und so was,  vielleicht noch in Orange, würden wir niemals machen.“ Heute dieses, morgen  jenes. Das würde nur Kosten verursachen, die sich einer wie Born gar nicht  leisten kann. Aber vor allem würde es vom Wesentlichen ablenken: der Qualität.  „Ein Messer ist schließlich das wichtigste Werkzeug des Menschen“, sagt Karl Peter  Born. „Es sei denn, Sie sind Elektriker.“ Borns beste  Messer werden noch genauso hergestellt wie die seines Großvaters. Geschmiedet,  nicht gestanzt, in Handarbeit. Und die kostet. Born bezahlt seine 20  Mitarbeiter nach Tarif und auch mal was extra. 50 Prozent der Produktionskosten  liegen im Messergriff. Doch der Chef hat der Automatisierung aus Prinzip immer  widerstanden. Sein Maschinenpark ist 20 Jahre alt. 200 Messermodelle fertigt  seine Manufaktur pro Jahr, jeweils kleine Serien von rund 300 Stück. „Klar kann  man Roboter hinstellen, aber das rechnet sich nicht“, sagt Born. „So ein  Roboter hat kein Gefühl in der Hand, der schleift alles krumm und schief.“  Womit wir wieder bei der Qualität wären. Viele andere Solinger Messerschleifer  haben daran nicht gedacht und sind heute nur noch Geschichte – oder  Lohnschleifer für die Messerindustrie. Nicht jedem  Trend hinterherlaufen – dieser Grundsatz ist Teil des Erfolges von Born. Und  außerdem: die Übersicht behalten. „Unser Laden hat genau die richtige Größe,  das kann ein Mensch sehr gut überblicken.“ Outsourcing ist für Born deshalb  auch kein Thema. „Wehret den Anfängen“, sagt er. „Heute hole ich mir etwas aus  Wuppertal, morgen aus Düsseldorf und übermorgen aus Schanghai. Wer blickt denn  da noch durch? Und seine Glaubwürdigkeit verliert man so auch.“ Reicht es  wirklich aus, wie ein Stoiker immer nur das zu machen, was man schon immer tat,  selbst wenn es gut ist? Ist der Messermarkt dafür nicht zu hart? Tatsächlich  setzen Billigimporte und Raubkopien aus Fernost auch Güde zu. Außerdem wird in  den Profiküchen immer weniger selbst geschnippelt. Dafür gibt es aber mehr  ambitionierte Hobbyköche, die allerdings anspruchsvoll sind. Denen muss man  etwas bieten. Güde ist  gut darin, neue Möglichkeiten zu erkennen. Aus der Olivenölwelle machte Güde  die Olivenholzwelle – und baute wieder Griffe aus Holz. Und als ein Chinese mit  einer Aktentasche voller Entwürfe für ein chinesisches Kochmesser in sein Büro  kam, schmiss der Chef ihn nicht raus, sondern hörte ihm zu und produzierte das  Modell schließlich – 10 000 Stück in vier Jahren. Eine reine Edelstahlversion  lehnte Born aber trotz Drängens der Händler immer wieder ab: „Der Griff ist  viel zu schwer, damit kann kein Chinese kochen.“ Güde machte  im vergangenen Jahr 1,4 Millionen Euro Umsatz – damit geht es der Firma nicht  schlecht. Aber viel Geld für Marketing und Werbung ist nicht drin. Güde machte  aus der Not eine Tugend und verschaffte sich damit das Image einer Edelmarke.  „Man muss nicht die Fehler der Großen wiederholen“, sagt Karl Peter Born. „Wir  brauchen keine Fotos mit knallroten Tomaten oder gleich einem ganzen Salat  neben unseren Messern.“ Güde präsentiert sich lieber puristisch schwarz-weiß.  Das sieht schick aus und ist bedeutend billiger als ein Katalog in Farbe. Das  Unternehmen geht seinen eigenen Weg, aber ein Einzelkämpfer will die Solinger  Manufaktur nicht sein. Natürlich gibt Karl Peter Born das Heft nicht aus der  Hand, aber trotzdem sollen Kooperationen mit anderen Solinger Handarbeitern die  Kosten reduzieren und die Arbeit noch weiter professionalisieren. Sieben kleine  Messermacher werden sich fortan gegenseitig über die Schulter schauen lassen,  gemeinsam ihre Mitarbeiter schulen, Rechtsfragen klären und Marketingaktionen  beraten. Und das ist  dann doch sehr neu, wenn nicht sogar revolutionär – zumindest in dieser  Branche. Zu Großvater Güdes Zeiten, sagt Karl Peter Born, hätten sich niemals  zwei Solinger Messerschleifer auf dem Bürgersteig getroffen. Einer hätte vorher  die Straßenseite gewechselt.   Gardinen Haase, Essen Der Chef  heißt Reiner Haase, und auf seiner Krawatte hoppeln gelbe und blaue Hasen  aufeinander zu. Das erkennt man allerdings erst, wenn man sehr genau hinsieht.  Haase, 70, legt Wert auf Dezenz und gute Umgangsformen. Wenn es sein muss, kann  er aber auch kämpfen. Und manchmal muss es sein. Haase  produziert seit 40 Jahren Gardinen in Deutschland. „Wissen Sie noch, wie Ihre  Eltern Gardinen gekauft haben?“, fragt er. „Sie sind in den Laden gegangen, der  Verkäufer hat sie mit Stoffballen zugeschmissen, sie haben ausgesucht und  gerechnet. Dann war’s zu teuer, und alles ging von vorne los. Irgendwann wurde  das Ding geschneidert, und Ihre Mutter fuhr wieder in den Laden zum Abholen. Zu  Hause musste sie auf die Leiter steigen. Und wenn die Gardine nicht passte …“  Er macht eine kurze Pause. „Aber man will keine Stoffballen kaufen. Sondern  Gardinen. Wenn Sie eine Bluse kaufen, wollen Sie auch kein Stück Stoff. Die  Sache ist klar: Auch für Fenster muss es Mode geben!“ Haase nennt einen  Sonnenschutz „Sommerkleid“, eine Gardine „Tageskleid“, eine Übergardine  „Abendkleid“. Alles zusammen ergibt das „Fensterkleid“. Zwei Kollektionen  entwirft er pro Jahr. Das wirkt  alles ein bisschen kurios. Doch Haase ist erfolgreich. Er beliefert 50  Geschäfte, eigene oder von Kaufhäusern betriebene. Knapp 200 Menschen  entwerfen, schneidern und verkaufen für ihn Gardinen. Der Umsatz liegt bei acht  Millionen Euro. Na gut, vor  acht Jahren waren es noch zehn Millionen Euro. Aber es ist eigentlich ein  Wunder, dass es die Firma überhaupt noch gibt. Denn Haase produziert in  Deutschland. Seit vier Jahren kommt zwar das Ausgangsmaterial von einem  Zulieferer an der tschechischen Grenze. Doch die Maßanfertigung sitzt in  Essen-Borbeck – und ihr Anteil am Geschäft beträgt 70 Prozent. Der Markt  ist hart. „Die Leute wechseln nur etwa alle acht Jahre ihre Gardinen“, sagt  Haase. „Außerdem werden weniger Häuser gebaut, also wird weniger umgezogen,  also braucht man weniger neue Gardinen.“ So werde der Gardinenmarkt jedes Jahr  zwischen drei und sieben Prozent kleiner. Nicht umsonst haben zahlreiche  Kaufhäuser und Möbelmärkte schon vor Jahren ihre Gardinenabteilungen  geschlossen und verkaufen nur noch verpackte Billigware. Wer Besseres will,  kann zum exklusiven Dekorateur gehen – aber da wird es dann richtig teuer. Haases  Geschäftslücke liegt dazwischen. Bei ihm gibt es Kissen für drei Euro, Stores  für 30 Euro und Fensterkleider nach Maß für 1000 Euro. „Mein Motto ist: Pass  dich an“, sagt Haase. Deshalb hat er sein Geschäft inzwischen komplett umgebaut.  30 Jahre lang war er Zulieferer – bis die Gardinenanbieter aufgaben und er ohne  Abnehmer dastand. Also wurde er Händler, übernahm alte Gardinenläden und  -abteilungen und gründete neue. Mit den großen Läden machte er Verlust, mit den  kleineren Gewinn. Reiner Haase: „Wir sind noch heute am Ausprobieren, was am  besten zu uns passt.“ Das  Unternehmen durchläuft bis heute einen gewaltigen Lernprozess. Aber: „Da muss  jede Firma mal durch“, sagt Haase. Für ihn ist das Alltag, ein Teil der  Existenzsicherung. Außerdem war ihm von Anfang an klar, dass er nicht so  weitermachen wollte wie seine erfolglosen Vorgänger. Er war davon überzeugt,  dass er das komplizierte Produkt vereinfachen musste. „Gardinen müssen wie eine  Bluse sein“, wiederholt er. „Man muss sie aus dem Schrank nehmen und überziehen  können. Und man muss mit der Mode gehen und sie ohne großen Aufwand wechseln  können.“ Um seine  Produkte zu verschönern und zu vereinfachen, lässt sich Reiner Haase immer  wieder etwas einfallen. Bei der Geschäftsgründung 1965 war es die  revolutionäre, patentierte „Haase-Falte“, die auch nach dem Waschen noch eine  Falte blieb. Das Nähprinzip verstehen nur Fachleute, aber Haase hatte einen  Patentschutz, zumindest für sieben Jahre, und damit einen wesentlichen  Geschäftsvorteil. Heute ist die Haase-Falte Standard. Dann kam  der „Haase-Bogen“, ein präzise gearbeitetes, gefälteltes Stück Gardine, das  oben über dem Fenster hängt – daran arbeiten sich noch heute viele Konkurrenten  ab. Zuletzt rupfte Haase die Haken und Ösen von der Gardine und nähte  Klettbänder dran. „Die Dinger halten wie der Teufel“, sagt er. „Ich kenne das  vom Segeln.“ Dank der Klettbänder lassen sich Haases Gardinen sekundenschnell  abnehmen und aufhängen. Bei Haase  gibt es keine Forschungsabteilung und keinen Produktionsvorstand – dem  Unternehmer reicht sein eigener Einfallsreichtum. Er ist einer, der genau  hinguckt und auch mal die Blickrichtung ändert. Wie zum  Beispiel bei den Dekomobilen. Das sind Kleintransporter, mit denen Haases  Mitarbeiter das Sortiment aufs Land fahren, zu Kundenterminen. Da messen seine  Leute, probieren verschiedene Fensterkleider aus und montieren sie, wenn sie  fertig sind. Damit nehmen sie ihren Kunden genau die lästige Arbeit ab, die sie  vom Kauf neuer Gardinen abhält. Außerdem gewinnen sie viele Kunden, denen der  Weg ins Geschäft in der nächsten Stadt zu weit ist. Die Deko-mobile schaffen  ein Drittel aller Aufträge für Haases Maßschneiderei heran. Und woher hatte  Reiner Haase die Idee? Aus dem USA-Urlaub! Da hatte er die vielen „Ich-AGs in  den Vans“ gesehen – und das Prinzip übernommen. So  funktioniert er. Haase benutzt auch einen computergesteuerten Schneidetisch für  große Stoffbahnen. Die hatte er zum ersten Mal in einer Segelmacherwerkstatt  gesehen und eine Maschine für sich umbauen lassen – heute erledigt der Computer  die Hälfte aller Zuschnitte. Dabei kämpft Haase die ganze Zeit mit den Kosten  für die Handarbeit, die durch keinen Roboter ersetzt werden kann. Mit dem  Outsourcing ist er unzufrieden, er will die Fertiggardinen wieder in Essen  produzieren. Vielleicht schafft er es mit Aushilfen, für die weniger  Sozialabgaben zu zahlen sind. Als  Unternehmer ist sich Reiner Haase für nichts zu schade. Weil die Moden wechseln  und auch die Gardine zur Mode gehört, veranstaltet er seit drei Jahren  Gardinen-Modenschauen mit Lichteffekten und Alleinunterhalter, Gardinen  haltenden Frauen auf Stehleitern und überwiegend älteren Damen im Publikum.  Haase macht selbst den Conférencier. Natürlich haben ihn seine Konkurrenten  deshalb ausgelacht und gespottet: „Guck mal, der Chef rennt mit Stöffchen über  die Bühne.“ Dabei ist Haase einfach nur Haase geblieben: „Was ich muss, das  will ich auch.“ -- zurück zur Übersicht |