brand eins, April 2006 zurück zur Übersicht
Von Lemmingen und Langstreckenläufern
Günstig produzieren in Deutschland geht nicht, das ist die landläufige Meinung in den Chefetagen. Also wird das, was geht, ins billige Ausland verlagert.
Das kann gut gehen, muss aber nicht.
• Sie hatten wirklich alles versucht. Sie akzeptierten flexible Schichten, damit ihr Arbeitgeber zwölf oder auch 21 Schichten die Woche fahren konnte, ganz nach Bedarf. Sie akzeptierten individuelle Zeitkonten, wobei jeder Arbeitnehmer bis zu 60 Stunden im Soll oder im Haben ansammeln durfte. Neue Kollegen wurden nur noch über eine Zeitarbeitsfirma eingestellt. Den Krankenstand konnten sie senken. Sie automatisierten weiter. „Die dadurch erzielte Senkung der Arbeitskosten entspricht voll dem von der Geschäftsleitung erwarteten Volumen“, sagte Continental-Personalvorstand und Arbeitsdirektor Thomas Sattelberger im März 2004.
Im Mai 2005 stimmten die Continental-Reifenwerker am Standort in Hannover-Stöcken auch noch einer Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Stunden zu – ohne Lohnausgleich.
Genützt hat all das leider nicht. Am 22. November 2005 teilte die Unternehmensleitung den Mitarbeitern mit: Die Pkw-Reifenproduktion in Hannover-Stöcken wird geschlossen und nach Osteuropa verlagert – 320 Menschen verlieren ihre Arbeitsplätze.
Und das, obwohl das Werk in Stöcken profitabel arbeitet. Obwohl Continental Rekordgewinne erwirtschaftet, mehr noch als im Jahr 2004, als der Konzern ein Ergebnis vor Zinsen und Steuern von 1,2 Milliarden Euro erzielte, und obwohl er diesen Wert im Jahr 2005 schon nach neun Monaten erreichte. In einer wirtschaft-lichen Lage, in der Continental-Finanzvorstand Alan Hippe den Aktionären eine „maßgebliche Erhöhung“ der Dividende in Aussicht stellte und der Konzern laut Vorstandsvorsitzenden Manfred Wennemer „zwei bis vier Milliarden Euro“ für Zukäufe in der Kasse hatte.
Sparsame Kunden, die nichts mehr brauchen – der Druck ist enorm
Selten war der Aufschrei so groß wie im Fall Continental. Dabei ist die Verlagerung der Produktion von deutschen Standorten in Niedriglohnländer nun wirklich nichts Neues. Und es geht nicht mehr nur ums Verlagern – mittlerweile werden viele neue Werke direkt in Billigländern errichtet.
Laut einer Studie der Boston Consulting Group (BCG) machen die Importe aus Billiglohnländern gemessen am Gesamtwert aller in Deutschland produzierten und importierten Bekleidung inzwischen 61 Prozent aus. Bei EDV-Geräten sind es 42 Prozent, bei der Elektronik 33 Prozent, in der Automobilindustrie 12 Prozent. Von 100 Paar verkauften Schuhen kommen 98 aus Niedriglohnländern, bei Kühlschränken fast jeder zweite.
Und der Druck auf hiesige Produzenten nimmt zu. In zehn Jahren, so BCG, wird es kaum mehr Kühlschränke aus heimischer Produktion geben. Auch sonst wird der Anteil an Waren, der aus dem billigeren Ausland kommt, dramatisch steigen. Zwischen 1997 und 2003 verdoppelte sich der Anteil der Billigimporte am deutschen Bruttosozialprodukt von drei auf sechs Prozent.
Hinzu kommt, dass die europäischen Märkte weitgehend gesättigt sind. Laut BCG wird die Nachfrage nach Konsumartikeln künftig pro Jahr nur um magere 2,2 Prozent steigen. Was nichts anderes bedeutet, als dass gewinnträchtiges Wachstum künftig vor allem in den derzeit aufstrebenden Ländern stattfinden wird. Und auf diesen preissensiblen Märkten kann nur konkurrieren, wer billig produzierte Waren anbieten kann.
Lohnt sich die Verlagerung der Produktion ins Billigland also in jedem Fall? Ist sie notwendig? Diese Fragen sind gar nicht so leicht zu beantworten. Mit volkswirtschaft-lichen Daten allein kommt man nicht weiter. Denn eine Verlagerung ist letztlich die Entscheidung des Unternehmens.
Continental hat sich die Verlagerungsfrage schon vor Jahren beantwortet und eine klare Strategie entworfen: Zuerst werden die Werke in Niedriglohnländern ausgelastet, was übrig bleibt, übernehmen Standorte in Hochlohnländern. Wenn nichts übrig bleibt, werden die teurer produzierenden Werke geschlossen. Deshalb hat es jetzt auch die Pkw-Reifen-Produktion in Stöcken erwischt.
Allerdings hatten die Werker in Stöcken wahrscheinlich so oder so kaum eine Chance, denn Continental baut seine neuen Kapazitäten vor allem in Billigländern auf. Für 250 Millionen Euro entsteht ein neues Reifenwerk in Brasilien, in China plant der Konzern eine ähnlich dimensionierte Fabrik. Im rumänischen Timisoara betreibt Continental seit 2000 sein modernstes Werk für Pkw-Reifen, mit 1000 Beschäftigten und einem Jahresausstoß von acht Millionen Reifen. Die heute noch in Stöcken hergestellten Reifen produzieren sie dort künftig mit.
Continental hat sich für die harte Linie entschieden. Wo sich ein Kostenvorteil ergibt, wird er genutzt. „Bei der Produktion von Reifen betragen die Arbeitskosten mehr als 25 Prozent. Wenn Sie in Rumänien nur ein Zehntel der deutschen Lohnkosten haben, dann zwingt Sie das zum Rechnen“, sagt Unternehmenssprecher Hannes Boekhoff. „Wenn die Zahlen zeigen, dass ein Standort mit seinen Stellschrauben am Ende ist und Sie woanders langfristig günstiger produzieren können – dann wird verlagert.“
Hilft eine Verlagerung? Das kommt darauf an
Daran ändern auch hohe Unternehmensgewinne nichts. „Wir stehen unter Wettbewerbszwang“, begründet Hannes Boek-hoff die strikte Continental-Politik. „Man kann Gewinne nicht in die Zukunft projizieren. Die Automobilindustrie verlangt bis zu fünf Prozent Preisnachlass pro Jahr. Wenn Sie da stehen bleiben, sind die guten Gewinne von heute in gut zwei Jahren weg.“ Um etwa in Rumänien Reifen verkaufen zu können, müssten diese auch zu rumänischen Preisen produziert werden. Und das geht – ganz klar am besten in Rumänien.
Als typischer Automobilzulieferer steht Continental zudem unter dem Druck seiner Kunden. Wenn die Automobil-Industrie ihre Produktion etwa nach Fernost verlagert, muss auch der Reifenlieferant nachziehen.
Für Continental ergibt die Jagd nach dem billigsten Standort also Sinn. Die Produktion der Reifen wird billiger, ohne dass die Qualität leidet, und man ist näher am Kunden. Außerdem lassen sich neue Märkte leichter bedienen. Doch was sich für Continental lohnt, kann andere Unternehmen in den Abgrund treiben. Denn Verlagern ist nicht gleich Verlagern.
„Auch die Industrie ist nicht frei davon, Trends hinterherzulaufen“, sagt Peter Baumgartner, Geschäftsführer Deutschland bei Mercer Management Consulting. „Solch ein Verlagerungsprojekt ist in der Regel Chefsache und wird dann manchmal zum Selbstläufer.“ Dann gebe es intern keine Fragen mehr. Leider.
Für Baumgartner sind zwei Punkte entscheidend bei der Frage, ob sich für ein Unternehmen die Produktion im Ausland lohnt oder nicht. „Es kommt ganz stark auf das Produkt und die Ausgangssituation des Unternehmens an“, sagt er. Standardprodukte wie etwa Bleistifte oder Konfektionsware seien noch relativ leicht verlagerbar. Auch Reifen sind in der Herstellung nicht sonderlich komplex. Bei komplizierten Maschinenbauprodukten jedoch sehe die Sache ganz anders aus. „Das erfordert ausgefeilte Prozesse über die gesamte Wertschöpfungskette. Hier kann man nicht einfach einen einzelnen Prozessteil durchrechnen und den Rest unberücksichtigt lassen.“
Verlagern ist teuer – oft kostet es mehr, als dadurch gespart wird
Das leuchtet ein. Doch selbst bei scheinbar einfachen Produkten lauert Gefahr. Auslegeware lässt sich beispielsweise prima billig in Asien herstellen. Problematisch wird es aber beim Transport. Wer einen Container mit Teppichrollen zu voll packt, wird im deutschen Hafen knautschige Würste aus dem Blechkasten ziehen – das Produkt hält die Pressur nicht aus. Also braucht man mehr Container, was die Transportkosten nach oben treibt. Glück hat, wem das Problem bewusst wird, bevor er seine Ware wegschmeißen kann.
Baumgartner unterscheidet auch nach den Gründen für eine Verlagerung. Bei wachsenden Unternehmen, die ihre Kapazitäten ausbauen und Märkte erschließen wollten, ergebe die Auslandsproduktion eher Sinn als bei Firmen, die allein aus Kostengründen Produktionsteile verlagern. Baumgartner kennt auch den Irrglauben, durch Produktion an Billigstandorten die dortige Konkurrenz klein halten zu wollen, kennt das stumme Erstaunen auf die Frage, ob das Unternehmen denn überhaupt einen Markt für die fernab produzierten Waren habe. „Wenn ich meine Kapazitäten nicht erweitern muss“, so Baumgartner, „würde ich mir das bei komplizierten Produkten dreimal überlegen.“
Denn Verlagern ist teuer. Die üblichen Investitionskosten fallen so oder so an. Und wer aus Kostengründen verlagert, kann am verbleibenden deutschen Hauptquartier oft nicht so viel einsparen, wie der Aufbau jenseits der Grenze kostet. Er kann nicht plötzlich seine alten Hallen abreißen oder gleich noch die Verwaltung zusammenkürzen, denn die bekommt eher mehr zu tun, weil sie das entstehende Standortgeflecht organisieren muss. Neue Manager müssen bezahlt werden. Reisen. Außerdem dauert es zumeist länger als geplant, bis der neue Standort genügend Qualität und Produktivität erreicht hat, um die Kosten wieder reinzuholen.
„Die gängigen Planzahlen für Anlaufzeiten und -kosten bei Verlagerungen kann man getrost mit dem Faktor 2,5 multi-plizieren“, sagt Steffen Kinkel vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe. Kinkel beschäftigt sich seit Jahren mit dem Für und Wider von Standortverlagerungen. Wer seine Kapazitäten erweitern und neue Märkte bedienen wolle, meint Kinkel, der könne seine Verlagerungskosten wenigstens dank neuer Geschäfte erwirtschaften. Wer aber nur kostengetrieben agiere, der müsse alles aus dem Altgeschäft finanzieren.
Kinkel weiß das aus zahlreichen Studien und Gesprächen vor allem mit kleinen und mittelständischen Betrieben: Mit verheißungsvollen Lohnkosten-Statistiken vor Augen planen Unternehmer den großen Sprung. Nur 42 Prozent der von ihm befragten Firmen gaben „Markterschließung“ als Grund für die Verlagerung an, 85 Prozent verwiesen auf das Kostenargument. Die üblichen Kennzahlen verleihen trügerische Sicherheit. Wenn es da drüben so billig ist, muss sich das doch einfach lohnen, glauben viele. „Die Entscheidung ist oft schon gefallen, bevor überhaupt gerechnet wird“, so Kinkel.
Dabei ist das Lohnkosten-Argument problematisch. „Wenn vor allem Handarbeit verlagert wird, kriegen die Lohnkosten eine besondere Bedeutung.“ Kinkel spricht vom „Hebeleffekt“: Schon geringe Lohnsteigerungen im Ausland schlagen sich überproportional auf die Gesamtrechnung nieder, machen sie doch den Großteil der vermeintlichen Verlagerungsvorteile aus.
Und die Lohnsteigerungen beschränken sich nicht auf einen Inflationsausgleich wie zurzeit in Deutschland. In China stiegen die Löhne zwischen 1997 und 2002 um 45 Prozent, in Tunesien um 27 Prozent. Osteuropa verzeichnet derzeit zum Teil zweistellige Wachstumsraten pro Jahr. Zusammen mit erhöhtem Organisationsaufwand, mit Anlaufschwierigkeiten, Qualitätsproblemen, Lieferanten-Hickhack, Logistikkosten, Terminproblemen, Controlling und Fachkräftemangel wird aus einer Verlagerung flugs ein Problem. „Dass sich die Verhältnisse vor Ort auch ändern können, bedenkt kaum ein Unternehmen“, sagt Kinkel. Die Folgen: „Jedes fünfte Unternehmen gibt auf und kehrt nach Deutschland zurück. Reine Kostenverlagerungen scheitern deutlich häufiger als Verlagerungen, die marktgetrieben sind.“ Kinkel befragt seit Jahren regelmäßig deutsche Unternehmen – die Zahlen haben sich nicht wesentlich verändert.
Hausaufgaben sind Pflicht – wer daheim nicht klarkommt, packt es nicht
Es kommt also darauf an, warum jemand geht. Dabei machen viele Unternehmen einen verhängnisvollen Fehler. „Verlagerung gilt oft als Unternehmensoptimierung, die schneller und einfacher funktioniert als am heimischen Standort“, sagt Kinkel.
Nur kann eben nicht erfolgreich verlagern, wer seine Hausaufgaben nicht macht. Viele Unternehmen haben das lernen müssen, wie der Landmaschinenhersteller Lemken aus Alpen am Niederrhein. Lemken ging schon in den neunziger Jahren nach Kaliningrad, um dort Wellen für seine Pflüge und Pflanzmaschinen drehen zu lassen. Dumm nur, dass die Stahlpreise stiegen und die Dreher die Maße nicht einhielten oder nicht zur Arbeit kamen.
Nach drei Jahren war Schluss mit Kaliningrad, und Lemken räumte zu Hause auf. Die Firma investierte in neue Maschinen, führte Gruppenarbeit, flexible Arbeitszeiten und Zeitkonten ein, beteiligte die Mitarbeiter am Unternehmensgewinn. Neue Auslands-Engagements finden nur noch im kleinen Rahmen statt. Das geht gut: Der Jahresüberschuss von Lemken steigerte sich beharrlich auf 6,4 Millionen Euro im Jahr 2004.
Hausgemachte Probleme einfach zu verlagern bringt also nichts. Doch trotz zahlreicher Beispiele lernen viele Unternehmen nicht hinzu. Steffen Kinkel kennt das aus der Praxis. „Wenn Unternehmen ins Ausland abwandern, läuft das oft nach dem Motto: Das Verlagern wird’s schon richten. Aber die Probleme holen einen auch im Ausland ein.“
Was aber tun, wenn man mit Hausaufgaben allein die Gesamtnote nicht mehr verbessern kann? Manchmal sind Unternehmen schon so weit in der Misere, dass sie keinen anderen Ausweg sehen als die Flucht über die Grenze. Wie Lego. Der Spielzeugsteinfabrikant will sich sanieren – in Tschechien.
Für Lego stellt sich nicht die Frage, ob sich eine Verlagerung der Produktion lohnt. Für Lego ist es eine schlichte Notwendigkeit. Mit einer Mischung aus Managementfehlern und ausgeprägter Loyalität gegenüber den Hochlohnstandorten hat sich die dänische Firma in eine Situation gebracht, in der sie sich jetzt Knall auf Fall aus Westeuropa verabschiedet.
Dem steigenden Marktdruck durch Billigimporte, der Konkurrenz durch Computerspiele und sinkenden Kinderzahlen begegnete Lego mit einer Ausweitung des Sortiments, investierte in Software und Fernsehproduktionen. Das erhöhte zwar zunächst den Umsatz, brachte aber keine Gewinne. Lego verzettelte sich, und schließlich brach der Umsatz ein, von 10,1 Milliarden Dänischen Kronen im Jahr 2002 auf 6,7 Milliarden zwei Jahre später. Der Umsatz im vergangenen Jahr lag bei 7,05 Millionen Kronen ( 944 Millionen Euro).
Die Managementfehler wirkten sich auch deshalb so verheerend aus, weil Lego weiterhin im teuren Dänemark und in der Schweiz produzierte. Noch 1993 zog Lego im schweizerischen Willisau eine Fabrik hoch, obwohl die Konkurrenz bereits nach Asien abwanderte. Lego glaubte an die Automatisierung, es war wohl auch nicht unerheblich, dass die Lego-Besitzerfamilie Kristiansen in der Schweiz lebt.
Inzwischen hat Lego seine Freizeit-parks verkauft und konzentriert sich auf die Spielsteinchen. Um die Zahlen langfristig zu verbessern, wird das Werk in der Schweiz komplett aufgegeben, die Steine werden künftig in der eigenen Fabrik im tschechischen Kladno gepresst oder von Dritten aus Osteuropa angeliefert. Die größte Kostenersparnis erhofft sich Lego bei den Löhnen, diese lägen für die Firma in Tschechien zwischen 25 und 50 Prozent niedriger als in der Schweiz. Hinzu kommt: Die europäische Vertriebslogistik übernimmt nun DHL Solutions in Jirny bei Prag.
Lego hat jahrelang Verluste in Kauf genommen, den eigenen Ruf beschädigt und nun mit dem Schritt nach Tschechien im letzten Moment die Notbremse gezogen. Dass es auch anders gehen kann, zeigt Geobra Brandstätter, also Playmobil. Der Spielwarenproduzent aus dem bayerischen Zirndorf folgt seit seiner Gründung 1969 einer bedachten Standortpolitik, in der die Produktion im Ausland schon immer eine Rolle spielt. Die Leute bei Playmobil sind da ganz pragmatisch. Das bewirkt, dass Playmobil wirklich nur das verlagert, was verlagert werden kann.
Lange bevor es so etwas wie Globalisierung überhaupt gab, machte sich Firmenchef Horst Brandstätter auf die Suche nach einem Standort, an dem er seine Figuren günstiger herstellen konnte als in Deutschland. Er achtete auf niedrige Löhne – aber nicht nur. Er suchte gezielt nach einem Ort mit engagierten Leuten und möglichst wenig Reibungsverlusten. Auf Malta wurde er fündig. Dort spricht man Englisch und lebt die sprichwörtliche britische Disziplin. Noch heute ist Playmobil ohne Malta undenkbar. Am Standortmodell der Firma hat sich seit 1969 nichts geändert: In Malta werden die Figuren gepresst und komplettiert, der deutsche Fertigungsstandort in Dietenhofen befasst sich mit komplizierteren Dingen wie Ritterburgen und Piratenschiffen. An beiden Orten sind heute jeweils rund 700 Mitarbeiter beschäftigt. In Malta kostet eine Arbeitstunde acht Euro, in Deutschland 22 Euro. „Wir haben einen guten Mix“, sagt Playmobil-Geschäftsführerin Andrea Schauer, „und kommen sehr gut klar.“
Nun ließen sich Plastikfiguren auch noch billiger irgendwo in Fernost pressen. Doch Playmobil beteiligt sich nicht an der Jagd nach dem billigsten Standort, sondern investiert stattdessen Millionenbeträge in sein Werk auf Malta. „Wir hauen nicht einfach ab“, sagt Schauer, „denn ein solcher Standort erwirbt Know-how und gehört zum Kern des Unternehmens.“
Playmobil beherzigt eine einfache Regel in Standortfragen: Bleibe bei deinen Märkten. Ein Experiment in China wurde vor drei Jahren abgebrochen, obwohl dort die Arbeitsstunde nur einen Dollar kostete. Warum? Asien ist kein Schwerpunktmarkt für Playmobil, und aufgrund der langen Wege nach Europa konnten die Kunden nicht mehr termingerecht mit den rich-tigen Figuren versorgt werden. Ganz abgesehen von den Qualitätsproblemen. „Theoretisch rechnete sich das ganz wunderbar“, erinnert sich Andrea Schauer, „aber die realen Gegebenheiten sind immer anders.“
Verlagern, weil es passt, und nicht, weil es alle machen – daran hält sich Playmobil strikt. Es ist keine Frage von Patriotismus. Seit einigen Jahren lässt Playmobil in Tschechien Figuren in Plastikbeutel packen, eine Arbeit, die vorher Heimarbeiter nahebei erledigten. „Aber denen müsste ich hier elf Euro zahlen“, sagt Schauer. In Tschechien sind es umgerechnet vier Euro.
Verlagern, um Märkten oder Großkunden zu folgen und um Lohnkosten zu senken. Das sind die Hauptgründe, zu gehen. Das kann sich durchaus lohnen, wenn man es richtig macht. Nur: Wo sind die Grenzen? Wann ist Schluss?
Es ist wohl kein Zufall, dass Playmobil auf diese Frage bereits nach einer Antwort sucht. Drei Viertel aller deutschen Spielwaren werden in China produziert, und Qualitätsprobleme werden bald Vergangenheit sein. Die Kinder werden weniger und spielen seltener. Playmobil wird immer stärker unter Druck geraten.
Die Logik der Globalisierung: Aus Billiganbietern werden Wettbewerber
Klar ist: Verlagern löst kein strategisches Problem. Statt die Standorte zu verändern, verändert sich Playmobil also selbst. „Man sollte sich ein zweites Standbein aufbauen, solange es einem gut geht“, sagt der Inhaber Horst Brandstätter.
Die Zukunft der Firma könnten Blumentöpfe aus Plastik sein, die aussehen wie Keramik und über ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem verfügen – schließlich hat Playmobil mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Kunststoffverarbeitung. Seit 2000 produziert das Unternehmen diese Designerkübel namens Lechuza. Ein Umsatz von sieben Millionen Euro in 2005 ist nicht viel, doch Brandstätter kommt mit der Produktion kaum nach. Der Umsatz soll im kommenden Jahr bei 20 Millionen Euro liegen. Es ist wie zu frühen Playmobil-Zeiten. Geschäftsführerin Andrea Schauer sagt: „Wer weiß, in 30 Jahren produzieren wir vielleicht 50 Prozent Figuren – und 50 Prozent Blumentöpfe.“
Deutlich wird: Beim Verlagern kommt es darauf an, ob ein Unternehmen die Zeit und die Kraft zur Gestaltung hat oder ob es nur noch gehetzt auf den gefühlten Druck reagieren kann. Es ist ein Langstreckenlauf, kein Sprint. Die richtigen Entscheidungen lassen sich nicht anhand einer Liste von Kennzahlen treffen. „Das ist ein andauender Diskursprozess“, sagt Fraunhofer-Experte Steffen Kinkel, „das kann man nicht mal fix berechnen.“ Peter Baumgartner von Mercer Management Consulting fordert: „Unternehmen müssen sich fragen: Habe ich wirklich alle Perspektiven und Effekte der Verlagerung berücksichtigt? Verlagern bedeutet eine Veränderung im gesamten Firmensystems. Und Verlagern ohne die strategische Basis zu stärken bringt nichts, denn die Billiganbieter werden zunehmend zu Wettbewerbern auf unseren heimischen Märkten.“
Verlagern heißt eben auch: den neuen Standort mit der Heimatbasis in Harmonie zu bringen. Wer das schaffen will, muss lernen und sich Zeit nehmen. Wer beides nicht kann, hat ein Problem. Wer beides leistet, kann sein Unternehmen weit nach vorn bringen. Wie Sartorius in Göttingen.
Die Aktiengesellschaft produziert neben Filtern für Biotech-Firmen vor allem Waagen. Von solchen, die einen Elefanten wiegen können, bis zu feinsten, elektronikgestopften Laborgeräten, die selbst das Gewicht eines Satz-Punktes aus einem Tintenstrahldrucker messen. Sartorius wäre beinahe gescheitert, als die Firma 1994 in Asien nach einem Hersteller suchte, um die eigene Elektronikfertigung auszulagern.
Christian Oldendorf war damals in Malaysia unterwegs, im Kopf die üblichen Vorstellungen: Die werden froh sein, wenn sie für uns produzieren dürfen, da finden wir leicht jemanden, der uns die kompletten Leiterplatten für wenig Geld herstellt. „Der Vorstandsbeschluss zur Verlagerung war schon gefallen“, erinnert sich Oldendorf, heute Leiter Technologie und Innovation der Mechatronik-Abteilung bei Sartorius.
Doch dann kommt alles anders. Oldendorf sitzt mit den Managern der Firma Uchi zusammen, einem Massenhersteller einfacher Elektronik, etwa für Kaffeemaschinen. „Und da sagen die einfach Nein“, erinnert sich Oldendorf. „Die meinten: ,Ihr könnt doch mit der Elektronik nicht euer Herz aus dem Unternehmen geben. Mit solch einer Firma wollen wir nicht zusammenarbeiten. Ihr glaubt doch nicht, dass wir hier das produzieren können, was ihr euch in Deutschland ausdenkt?‘“
Das war wie ein Schlag vor den Kopf. Doch statt die Türen zuzuschlagen und nach dem nächsten Unternehmen zu suchen, dachte Oldendorf nach und reiste mit einer neuen Idee zurück nach Göttingen. „Was wir heute machen, haben wir damals von den Asiaten gelernt“, sagt Oldendorf: Technologiedifferenzierung.
Sartorius lagert anders aus als gemeinhin üblich. Statt die gesamte Leiterplatte zu vergeben, lässt Sartorius nur einen Teil der Elektronik in Malaysia fertigen. Schon das ist ein Novum, denn deutsche Ingenieure tun sich schwer damit, ein von ihnen entwickeltes Produkt aufzuspalten. „Wir entwickeln das gesamte Produkt prozessorientiert“, sagt Christian Oldendorf. Es geht nicht darum, für ein einmal entworfenes Produkt einen billigen Lieferanten zu finden. Sartorius entwickelt in Göttingen seine Bauteile so, dass sie getrennt gefertigt werden können und der Partner in Fernost das Teil wirklich gut produzieren kann – nach asiatischen Vorgaben. Sartorius’ Fernost-Leiterplatten sind mit fingerdicken Widerständen bestückt, mit Steckverbindungen – das sieht nicht so toll aus wie die fein verlöteten Teile aus Göttingen, lässt sich aber leicht per Hand zusammenstecken. Handarbeit ist billig in Malaysia und Hightech viel zu anspruchsvoll. Hinzu kommt, dass der Partner Uchi die groben Teile günstig am eigenen Standort einkaufen kann.
Dieses Verfahren hat mehrere Vorteile. Die Fähigkeiten des Billigproduzenten werden maximal ausgeschöpft, er wird aber nicht überfordert, was die Produktqualität und damit die Existenzgrundlage beider Unternehmen sichert. Die Kernkompetenz des Unternehmens, bei Sartorius ist das die Mechatronik, bleibt am deutschen Standort – das verhindert den Diebstahl von Wissen. Und weil man gemeinsam entwickelt, wird der ausländische Standort nicht zum Satelliten, der irgendwann unkontrolliert herumkreiselt.
„Wir haben gewonnen, weil wir abgegeben haben“, sagt Oldendorf heute. Nur weil Sartorius seine Kernkompetenzen identifiziert hat, kann sich das Unternehmen in Göttingen darauf konzentrieren und so den zweiten Teil einer erfolgreichen Verlagerungsstrategie leisten: die Stärkung des eigenen Standortes, um der Billigkonkurrenz langfristig zu trotzen.
Teilen hilft – und manchmal kommt für alle mehr dabei heraus
Statt das Wägesystem wie üblich aus mehr als 100 Einzelteilen zusammenzubasteln, entwickelte Sartorius ein Fräsverfahren, das dieses wichtige Teil weit günstiger am Stück aus einem Aluminiumklotz herstellt. Aus 2000 Bauteilen wurden 400 wirklich wichtige herausgefiltert und die Waagen entsprechend neu konstruiert. Sartorius hat seine Produktion so umgestellt, dass auch die Lieferanten günstiger produzieren und Preisnachlässe gewähren können. Heute ist die ehemalige Elektroniksparte ein selbstständiges Profitcenter, das zusätzlich Fremdkunden bedient und schon manchen chinesischen Konkurrenten preislich unterbieten konnte. Bei Sartorius Electronics arbeiten heute mehr Menschen als vor der Verlagerung nach Malaysia.
„Unsere gesamte Globalisierungsstrategie haben wir von Uchi gelernt“, betont Christian Oldendorf. Sartorius-Waagen werden heute neben Deutschland auch in China, Indien und den USA produziert. Jeder Standort verfügt über eine eigene Kernkompetenz, die es im Unternehmen nicht noch einmal gibt. Überall wird unter einheimischem Management entwickelt, eingekauft, gefertigt und verkauft, für den jeweils regionalen Markt. Die Fäden laufen in Göttingen zusammen, woher auch alle Wägesysteme stammen. „Wir haben nicht vor, bei jedem neuen Produkt eine neue Standortentscheidung zu treffen“, sagt der Sartorius-Vorstandssprecher Joachim Kreuzburg. „Zu viele Fertigungsstätten bedeuten auch zu viel Komplexität und redundante Investitionen. Und Redundanz kostet Geld.“
Als deutsche Firma erfolgreich im Ausland zu produzieren heißt für Sartorius, die Fäden in der Hand zu behalten und das Herz in Göttingen nicht ausbluten zu lassen. Um das zu erreichen, setzt das Unternehmen auch auf Kooperation. Unter maßgeblicher Beteiligung von Sartorius haben sich in Göttingen knapp 40 Firmen im so genannten Measurement Valley zusammengeschlossen. Sie kaufen gemeinsam ein und bilden den Nachwuchs gemeinsam aus. Sartorius produziert für die Nachbarn, die dürfen im Gegenzug seine Labore nutzen. Mitunter nutzen die Kleinen das globale Netz von Sartorius, etwa bei der Logistik. Besonders eng sind die Beziehungen zwischen Sartorius und dem Messgerätehersteller Mahr. Hauseigene Entwicklungen werden nach Möglichkeit auf die Fertigungsverhältnisse des jeweils anderen abgestimmt, Hardware wird gemeinsam verwendet, damit die entsprechende Software nur einmal entwickelt werden muss. Was der eine weiß, erfährt auch bald der andere – bei unterschiedlichen Kernkompetenzen kommt sich niemand ins Gehege.
„Kooperationen sind durchaus eine Alternative für Verlagerungen“, sagt Christian Oldendorf.
Denn: Wer kein Zuhause hat, bleibt überall ein Fremder. --
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