brand eins, September 2006 zurück zur Übersicht
Mut zur Lücke
Den deutschen Geschirrherstellern geht es schlecht, sehr schlecht. Kahla in Thüringen geht es gut.
Warum? Vielleicht, weil die Menschen bei Kahla gern über ihr Produkt nachdenken.
Ein Porzellanteller ist ein Porzellanteller ist ein Porzellanteller. 50 Prozent Kaolin, 25 Prozent Quarz, 25 Prozent Feldspat. Er ist rund, mal ein bisschen tiefer, mal ein wenig flacher. Mal ein dicker, mal ein dünner Rand. Ein Teller ist nicht besonders schwer herzustellen. Plagiatoren in Fernost können ihn leicht nachmachen und für wenig Geld auf den Markt bringen. Bei einer Tasse ist’s genauso.
So gesehen ist es kein Wunder, dass die deutsche Geschirrbranche harte Zeiten durchmacht. „Wir sind in einer problematischen Situation“, bekennt Lutz Graser, zuständig für Marktfragen beim Verband der Keramischen Industrie (VKI). „Wir bekommen vom Markt richtig Haue. Die Leute haben schlichtweg keine Lust zu kaufen. Sie halten ihr Geld zusammen, weil sie nicht wissen, wofür sie es noch einmal brauchen werden.“
Der Ordereingang aus dem In- und Ausland für das erste Jahresdrittel liegt um neun Prozent niedriger als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Und schon 2005 verzeichnete Graser einen empfindlichen Umsatzrückgang. „Porzellan liegt auf der Prioritätenliste der deutschen Verbraucher relativ weit hinten, was für gesättigte Märkte typisch ist“, sagt er. „Man kauft, um sich etwas zu gönnen, muss es aber nicht haben. Und in dieser Situation schwächelt jetzt auch noch der Export.“
Im Jahr 1991 arbeiteten knapp 25 000 Menschen in der deutschen Porzellanbranche an der Herstellung von Geschirr und Zierrat. Im vergangenen Jahr waren es noch 7080.
Gute Gründe für schlechte Stimmung in der Branche. Doch Holger Raithel, Geschäftsführer und zusammen mit seinem Vater Günther auch Inhaber der Kahla/Thüringen Porzellan GmbH in dem 7500-Einwohner-Ort bei Jena hat gute Laune. „Ein Teller ist nicht nur dazu da, eine Speise darauf abzulegen“, sagt der 34-Jährige. „Ein Teller ist Lebensart, ein persönlicher Ausdruck. Und Porzellan ist ein Alltagsgegenstand. Man muss es gut gebrauchen können.“
So betrachtet lässt sich Geschirr vielseitig gebrauchen. Teller etwa können darüber hinaus Deckel sein für Tassen, und Tassen können zudem Schälchen sein für Erdnüsse und Oliven – das spart Platz im Küchenschrank. Man kann die Tasse aus dem Zentrum der Untertasse rücken und Kaffeehausbetreibern endlich Platz für große Kekse bieten. Man kann das Porzellan mit einem samtweichen, Hitze abweisenden Material überziehen und so verhindern, dass man sich die Finger verbrennt. Man kann eine Auflaufform mit einem Ausguss versehen – da spart sich der Koch die Schöpfkelle. Man kann Tassen piercen. Man kann Teller an der Unterseite mit einer weichen Schicht versehen, damit sie nicht mehr klappern.
Man kann eine Menge machen. Kahla macht’s und behauptet sich so auf dem schwierigen Markt. Seit der Neugründung des Unternehmens im Jahr 1994 wuchs der Umsatz langsam, aber stetig auf nunmehr knapp 25 Millionen Euro, seit 1997 macht Kahla Gewinn. Die Zahl der Mitarbeiter ist seit vielen Jahren mit 330 Beschäftigen konstant.
Kahla verfolgt eine klare Linie. Und macht alles anders als die Konkurrenz
Nicht schlecht für ein Unternehmen, das aus dem ehemaligen Volkseigenen Betrieb Feinkeramik hervorgegangen ist, einem planwirtschaftlichen Moloch mit 17 Standorten, an denen 18 000 Beschäftigte die sozialistischen Bruderländer bis hin nach Wladiwostok mit Zwiebelmustergeschirr versorgten. Einem Ungetüm, das mit dem Zusammenbruch des Sozialismus unterging, weil die Märkte wegbrachen.
Am Kahlaer Werk versuchte sich gleich nach der Wende ein Düsseldorfer Investor – 1993 ging der Betrieb jedoch in Konkurs. Damals türmten die Mitarbeiter aus Protest Scherbenhaufen auf die Straßen des Ortes. Dass es danach aufwärtsging, liegt an Menschen mit Mut zur Lücke, die – einer klaren Linie folgend – die Dinge ein wenig anders machen. Beim Design, bei der Zusammenarbeit im Betrieb, beim Marketing.
Günther Raithel, 65, erinnert sich noch gut an seinen ersten Besuch in Kahla, Ende 1993. Raithel war damals Personalvorstand beim Qualitätsporzellan-Hersteller Rosenthal, außerdem zuständig für das Werkmanagement. 30 Jahre in der Firma lagen hinter ihm: „Ich war immer da, wo es brennt.“ Er hat um Aufträge gekämpft und Werke saniert. Er kannte sich aus. Deshalb hatte ihn das Land Thüringen gebeten, Kahla zu retten. „Damals war Notstand“, sagt Raithel. „Ich fand nur eine Hülle vor, mit Grund und Boden. Ein kohlschwarzes Gebäude, das aussah wie ein Eisenwerk. Und auf dem Markt wartete niemand auf neues Geschirr.“
Der absolute Nullpunkt. Für Günther Raithel aber war Kahla der Startblock. Er übernahm damals 380 gut ausgebildete Porzellanwerker und schrottreife Produktionsanlagen. Er musste – besser gesagt: durfte – ganz von vorn anfangen. „Das war die einmalige Chance, so zu produzieren, wie es sein sollte. Ich wusste, dass wir nur eine Chance hatten, wenn wir wirklich rationell fertigen.“
Raithel verließ Rosenthal und übernahm 51 Prozent von Kahla, den Rest behielt zunächst die Thüringer Industriebeteiligungsgesellschaft (TIB). Er ließ 4000 Tonnen Schutt und Gerümpel abfahren und gründete Kahla neu. Er teilte die Produktion in eine vollautomatische Straße für Flachgeschirr wie Teller und Platten und eine Linie für Hohlgeschirr wie Tassen, Vasen, Kannen – Anfang der Neunziger ein Novum in der Branche. Rund 16 Millionen Euro hat Raithel in die Fertigung investiert.
Doch das war lediglich die Grundlage für den Erfolg. „Rationalisieren, was zu rationalisieren ist“, sagt Lutz Graser vom VKI, „das ist die generelle Antwort der Hersteller auf den härter werdenden Wettbewerb. Aber auch automatisierte Herstellungsprozesse müssen ausgelastet sein. Wenn der Verbraucher zurückhaltend kauft, nützt betriebswirtschaftlich gesehen auch die Rationalisierung nichts. Damit allein kommt man nicht gegen chinesische Billiganbieter an.“
Die Kunst ist es, Lebensgefühl in Tassen und Teller zu übersetzen
Sondern es kommt darauf an, was mit den modernen Anlagen produziert wird. Als Kahla neu anfing, war der deutsche Markt für Geschirr noch stärker als heute klar gegliedert. Es gibt hochwertige Service, ein Großteil davon beruht auf klassischen und zeitlos-modernen Entwürfen. Es gibt extravagante teure Designerware. Und es gibt Massenware, die mit der aus China konkurriert und sich allein über den Preis verkauft.
Kahla sah die Lücke. „Wir wollten und wollen Geschirr herstellen für Leute, die für gewöhnlich nicht in einen antiquierten Porzellanladen gehen“, sagt Günther Raithel. „Also nicht dieses angestaubte Schnörkelporzellan, sondern Design, das zu einem jugendlichen Lebensgefühl passt. Und das nicht als teure Manufaktur, sondern als Serienhersteller.“
Nur wie fängt man jugendliches Lebensgefühl ein? Weil es flüchtig ist, kann man es nicht mit dem immergleichen Geschirr bedienen. Man muss also stets neue Ideen ausbrüten; die Produktion muss immer wieder umgestellt werden. Und die potenziellen Käufer müssen ständig von etwas Neuem überzeugt werden. Kahla hat in den vergangenen zwölf Jahren 17 neue Formfamilien lanciert und dafür 53 Designpreise bekommen. Alle Serien sind noch heute erhältlich, obwohl Kahla keine Nachkaufgarantie gibt, also nur das produziert, was laufend verkauft wird.
Wie schaffen die das? Raithel: „Im Porzellangeschäft kann man Trends schlecht voraussehen, man kann wenig testen. Es hängt sehr stark von den Menschen in der Firma ab, von ihrem Gefühl. Ich habe zwei Goldschätze. Meinen Sohn Holger und Barbara Schmidt, unsere Designerin.“
Holger Raithel ist seinem Vater nicht nur äußerlich ähnlich. Seit gut einem Jahr führt er die Geschäfte in Kahla, nach einem Physikstudium und sieben Jahren als Unternehmensberater, vorwiegend in der Autobranche. Er bleibt bei der Linie seines Vaters. „Design mit Mehrwert, das ist das große Thema hier“, sagt Holger Raithel, „so einfach ist das.“
Und so schwierig. Bei Kahla werden keine Statussymbole produziert, die die Kunden ein Leben lang behalten. Und keine Designerware, deren Sinn sich darin erschöpft, anders auszusehen als die Produkte der Konkurrenz. „Anders zu sein“, betont Holger Raithel, „das ist nur ein Nebenergebnis beim Versuch, inhaltliche Innovationen zu bieten. Wir wollen nicht nur gut aussehen. Wir wollen Probleme der Geschirrnutzer lösen.“
Zum Beispiel das der Mobilität: Berufstätige müssen heutzutage oft umziehen – Kahla bietet übersichtliche Service mit multifunktionalen Einzelteilen – das spart Platz und Umzugskisten. Außerdem bekommen die Leute immer später Kinder, und Großfamilien sind mittlerweile eher selten: Zwölfteilige Gedecke als Hochzeitsgeschenk haben also ausgedient. Kahla entwirft deshalb Kollektionen, die untereinander kombinierbar sind. Man kann klein anfangen, Teile aus neuen Serien dazukaufen und hat trotzdem ein stimmiges Bild auf dem gedeckten Tisch. Auch ganz kleine Probleme löst Kahla. Im Sommer krabbeln Ameisen und anderes Getier gern in die Zuckerdose, weil das Löffelloch im Deckel nicht ganz dicht ist. Kahla hat eine Dose, in die der Löffel lückenlos passt.
Solche Ideen setzen eine bestimmte Art zu denken voraus. „Wir entwickeln nicht aus irgendwelchen Produktionszwängen heraus“, sagt Holger Raithel. Also nicht nach dem Motto: Welche Teller können unsere Maschinen eigentlich noch pressen? Wenn man bei Kahla anfange zu denken, dann zunächst ohne die Kollegen aus der Produktion. „Wir denken aus Kundensicht.“ In den ersten Jahren hatte sein Vater noch eine „Das-geht-nicht“-Kasse, in der jeder fünf Mark versenken musste, der den entsprechenden Spruch brachte. Die ist längst eingemottet.
Es klingt selbstverständlich, dass Firmen zunächst überlegen, was die Kunden wollen. Ist es aber nicht. Statt Angebote für bestimmte Käufergruppen zu entwickeln und entsprechend zu vermarkten, versuchen Industrie und Handel die Kunden von dem zu überzeugen, was da ist, etwa mit Aktionen, die „Gedeckter Tisch“ heißen. Da besuchen dann Schulklassen ein Porzellangeschäft, um zu schauen, was man alles auf den Tisch stellen kann. Angesichts der Marktdaten scheint diese Strategie nicht besonders erfolgreich.
Weil Ideen das Kapital sind, darf die Designerin Inspirationsreisen machen
Das war auch schon so, als die Designerin Barbara Schmidt bei Kahla anfing, 1991, noch bevor Günther Raithel dort das Ruder übernahm. „Damals drohte die Porzellantradition abzureißen“, erinnert sich die heute 39-Jährige. „Die Branche versuchte, die Leute mit Tischkultur-Kampagnen zurückzuholen.“ Als Günther Raithel kam, schlug Kahla die entgegengesetzte Richtung ein. „Wir wollten die Leute nicht erziehen“, sagt Schmidt, „wir haben geguckt, was sie brauchen.“
Man kann es wohl als einen glücklichen Umstand bezeichnen, dass mit Günther Raithel ein Mann an die Firmenspitze kam, der das Design zur Chefsache erklärte, und dass mit Barbara Schmidt eine junge Frau da war, die mehr wollte, als runde Teller zu variieren. „Ich esse sehr gern aus Schalen“, sagt sie, „und wenn der Deckel der Schale ein Brotteller ist, kann man so eine komplette Mahlzeit unterbringen.“
Unkonventionell denken ist allerdings noch keine Garantie für ein erfolgreiches Design. Barbara Schmidt beschreibt ihre Arbeitsweise so: „Ich entwerfe nurmehr Dinge, die ich auch selbst verwenden würde. Aber ich gebe den Nutzern wenig vor. Sie sollen ihre eigenen Anwendungen finden für das Geschirr. Genauso wie in der Mode. Dort wird auch ständig alles umgedeutet.“
Schmidt entwickelt ihre Ideen nicht am Schreibtisch. Sie kocht selbst, isst mit Freunden, schafft sich konkrete Erfahrungen und Anregungen für neue Formen, die schön sind und mitunter kleine Problemlöser. In ihrer voll gerammelten Werkstatt modelliert sie aus Gips die ersten Modelle. Sie zieht die „quarkartige Konsistenz“ der Computeranimation vor.
Design ist eine sehr persönliche Sache. Keine Firma kann einer Designerin konkrete Ideen einimpfen. Aber sie kann viel tun, damit ihr interessante Dinge einfallen. Bei Kahla haben sie das begriffen und geben Barbara Schmidt viel Freiheit. Sie bekommt keine engen Vorgaben für Formen und Funktionen. Sie darf auf Messen reisen oder einfach mal nach Japan, um sich Anregungen zu holen. Sie absolviert monatelange Workshops im Ausland, die gar nichts zu tun haben mit konkreten Projekten von Kahla. Sie bekommt Zeit für unkommerzielle, künstlerische Arbeiten – das macht den Kopf frei. Ihr Sohn ist jetzt 21 Monate alt; seit seiner Geburt arbeitet sie viel zu Hause in Berlin. „Wenn man Leute einsperrt, kann man nicht viel Neues erwarten“, sagt Schmidt.
Auf den ersten Blick ist Kahlas Strategie riskant. Üblicherweise beauftragen Geschirrhersteller immer wieder externe Designer und sorgen so idealerweise für einen steten Strom neuer Ideen. Die thüringische Firma Kahla hingegen hat die alte DDR-Tradition übernommen und hält fest am hauseigenen Design.
Das hat Vorteile. Zum einen entwickelt sich dadurch eine eigene Formensprache – man könnte das auch Marke nennen. Zum anderen kennt sich Barbara Schmidt mit dem Material aus – im Gegensatz zu Kollegen, die heute Stühle, morgen Radios und übermorgen einen Teller entwerfen.
Anderswo scheitern gute Entwürfe in der Fertigung. Bei Kahla geht fast alles
Allerdings überlässt Kahla die Ideenfindung nicht allein dem Schmidtschen Genius. Als designorientiertes Unternehmen steht es unter besonderem Innovations-druck und nutzt deshalb auch Ideen von außen – allerdings ohne sich von ihnen abhängig zu machen. Alle zwei Jahre lädt der Geschirrhersteller Nachwuchsdesigner zu Kreativ-Workshops zu Themen wie „Die Party von morgen“ ein. Die Teilnehmer dürfen nicht nur Ideen einsenden, sondern bei Kahla modellieren und brennen, um am Ende das eigene Teil in den Händen zu halten. Das kommt an.
Kahla hat sich in Gestalterkreisen einen guten Ruf erarbeitet – weil die Firma mit ihren Ideengebern fair umgeht. Zum Beispiel „Touch“: Auf die Idee mit dem samtweichen Tassenbezug kamen nicht die Thüringer selbst, sondern ein freies Designbüro in Offenbach. Kahla machte daraus ein neues Produkt – aber auf jeder Packung, jeder Broschüre, jedem Werbezettel steht der Urheber der Idee: „speziell produktgestaltung“. Eine bessere Reklame kann es für ein vergleichsweise kleines Designbüro nicht geben. Kahlas Hausdesignerin Barbara Schmidt hat, so sagt sie, kein Problem damit: „Wir wollen hier keine Monokultur bilden.“
Ideen sind das eine. Das fertige Produkt ist etwas anderes. Dazwischen steht die Fertigung. Und die wird nur allzu oft zum größten Bremsklotz bei Innovationen. Der Kahla-Geschäftsführer Holger Raithel ist deshalb heilfroh, dass er einem Mittelständler vorsteht und keinem Riesenapparat, in dem jede Abteilung ihre eigenen Interessen verfolgt.
Geschäftsführung, Marketing, Vertrieb, Produktion – bei den entscheidenden Runden sitzt nur eine Handvoll Leute am Tisch. „Wir haben hier keine Steuerkreise, drehen nicht in der Jour-fix-Mühle“, sagt Raithel junior. „Und wir würden uns lieber einmal falsch entscheiden, als gar nichts zu beschließen.“ Wieso sie noch keinen echten Flop gelandet haben, kann allerdings auch er nicht wirklich erklären. Er spricht von der Unternehmenskultur, in der man zunächst Lösungen suche und dann erst die „NoNos“. Sein Vater lobt die „Menschen in der Firma“.
Das ist üblich heutzutage, doch bei Kahla scheint etwas dahinterzustecken: Alle springen immer wieder über ihren Schatten. So verlangen die Entwürfe von Barbara Schmidt ihren Kollegen in der Produktion einiges ab. An der Produktion aber kommt niemand vorbei. Viele Ideen werden an dieser Stelle üblicherweise auf ein unattraktives Maß zurechtgestutzt.
Es ist nicht so, dass es diese Versuche bei Kahla nie gegeben hätte. „Wer soll das denn kaufen?!“, schallte es Schmidt entgegen in der ersten Zeit, als die Berufsanfängerin ihre Modelle in die Produktion trug. Das hat sich mit Günther Raithel im Rücken und Erfolgen auf dem Markt geändert. „Wenn ich heute durch das Werk gehe, fühle ich mich von freundlicher Zustimmung getragen“, freut sie sich.
Man muss wissen, wie die Geschirrproduktion funktioniert, um die Bedeutung dieses Satzes einschätzen zu können. Flachgeschirr lässt sich maschinell pressen, doch der große Rest ist Handarbeit. Menschen kleben Henkel an Tassen, putzen Grate von feuchtweichen Kannen, schleifen und kontrollieren mit scharfem Blick. „Das Brennen ist noch immer wie Alchemie“, sagt Holger Raithel. Man weiß nie ganz genau, was hinten aus dem Ofen kommt, wenn man vorn eine neue Form hineinschiebt. Zumal wenn diese Form hier mal eine Überlappung hat und dort ein Loch – Schmidtsche Formen eben.
Da muss man frickeln, bis beides zueinanderpasst. Da könnte man viel ins Leere laufen lassen. Ein Teil der Dekorarbeiten wird in Tschechien erledigt, sonst produziert Kahla ausschließlich in Kahla. Der Schichtleiter Dusan Kopriva, 47, ist seit vier Jahren im Betrieb und schätzt die kurzen Wege in der Firma. Vom Büro der Designerin zum Formenbau sind es nur wenige Schritte. „Hier kommt Frau Schmidt an und sagt, was sie will“, sagt er grinsend. „Und wir sagen ihr dann, was geht.“ Der Unterschied zu manchem Konkurrenten ist: Es geht fast alles. „Ihre Ideen umzusetzen ist wirklich schwierig“, sagt Kopriva, „aber wir können das hier in der Werkstatt gleich klären.“
Der Handel war erst nicht begeistert. So visierte das Marketing die Kunden an
Niemand muss neue Zeichnungen von einem weit entfernten Designbüro bestellen, um dann nach Wochen festzustellen, dass es immer noch nicht passt. So kann Kahla seinen Innovationsmarathon durchhalten. Zudem kann sich nicht gegenseitig die Schuld zuschieben, wer sich über der Werkbank in die Augen schauen muss. Die Nähe verlangt beiden Seiten Kooperationswillen ab. „Frau Schmidt ist ein Mensch wie wir“, sagt Kopriva, „nicht so ein Übermensch irgendwo.“
Barbara Schmidt sagt dazu: „Natürlich weiß ich nicht alles über die Produktion. Wir müssen viel miteinander reden.“ Aus dieser guten Kooperation aber entstehen Produkte, die sich vom Gros des Geschirrs unterscheiden, das man gemeinhin in einem Porzellangeschäft findet. Das war von Beginn an für Kahla eine große Chance, aber auch ein großes Risiko. Denn einerseits stieß das Unternehmen in eine Marktlücke; zudem sind die ungewöhnlichen Formen nur schwer zu kopieren. Auf der anderen Seite muss das Produkt natürlich an die Kunden. Dazwischen jedoch liegt der Handel. Und dort wirkte das Geschirr von Kahla zumindest am Anfang wie ein Fremdkörper.
„Bedauerlicherweise gibt es immer noch Händler, die ihre Ware völlig altbacken präsentieren“, kritisiert Lutz Graser vom VKI. „Selbst Deko-Vorschläge oder andere Hilfen der Hersteller werden unverständlicherweise ignoriert. Aber der Appetit kommt oftmals erst beim Essen. Ebenso verhält es sich beim Kaufen.“
Der Handel tat sich anfangs schwer mit Kahla – und das kam der Firma langfristig zugute. Denn so konzentrierte sich das Unternehmen nicht auf die Händler, sondern auf die Kunden. Bei den potenziellen Käufern konnte zwar niemand etwas mit „Kahla“ anfangen. Für die Marketingleiterin Jutta Burkhart, 32, war das allerdings keine schlechte Ausgangsposition. „Eine Marke ist ein lebendiges Wesen, die kann man nicht mal eben umkrempeln. Die Branchengiganten hätten ihre angestammte Marke nicht so einfach auffrischen können. Wir aber hatten Glück, denn wir konnten neu anfangen. Wir waren keine eingeführte Marke.“
Von Beginn an war klar, dass Kahla nur mit massivem Marketing eine Chance hatte – aktuell verschlingt dieser Posten rund zehn Prozent des Umsatzes. „Wir leben schließlich nicht aus dem Akku unserer Marke“, sagt Jutta Burkhart. Kahlas Markenbekanntheit liegt bei 20 Prozent. Um das zu ändern, wendet man sich ganz entschieden an den einzelnen Kunden, schaltet Anzeigen in Frauentiteln, Wohnblättern, Gourmet-Magazinen und Kochzeitschriften oder überzeugt werbewirksame Sterneköche. Jutta Burkhart: „Wir wollen nicht erst im Laden Kunden mit einem Feuerwerk aus Pappe plätten. Wer ins Geschäft geht, weiß oft schon, was er will. Also müssen wir früher ansetzen.“
Auch bei der Kommunikation nach außen verlässt sich Kahla auf sich selbst. „Das ist wie beim Design“, so Burkhart. „Nur die Internen verstehen schnell genug, was wir wirklich wollen. Strategische Dinge bleiben einfach bei uns.“
Offenbar ist das die richtige Strategie. Wenn die Kunden Kahla wollen, wollen auch die Händler Kahla. Obwohl die Branche darbt, die Zahl der Fachhändler stetig abnimmt, Kahla preislich so ziemlich in der Mitte liegt und damit weder Geiz noch Protz bedient, steigerten die Thüringer ihre Jahresproduktion auf nunmehr rund 4400 Tonnen Geschirr.
Etwa die Hälfte geht ins Ausland, wo die Wachstumsraten auch zweistellig sind. Japan ist inzwischen der drittstärkste Markt. Das Geschäft mit Hotels und Restaurants hat auf ein Viertel des Umsatzes zugelegt. Im Privatgeschäft machen die alten Zwiebelmuster aus DDR-Zeiten nur noch ein Zehntel der Erlöse aus. Jüngst hat Kahla in Schanghai eine Vertriebstochter gegründet, um ausgerechnet China zu erobern. Eulen nach Athen tragen – den Kalauer haben sich die Kahlaer schon oft anhören müssen. Es macht ihnen nichts aus. Sie bleiben bei ihrer Linie. --
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