brand eins, Dezember 2007 zurück zur Übersicht
Freie Fahrt für freie Bürger
Rollstühle gelten als „Hilfsmittel“ – und sehen oft auch so aus.
Wie es anders geht, zeigt Industrial PDD.
Ein Designbüro, das mit seinen klugen Rollstühlen enorm gewachsen ist.
Er wollte nur ein Eis essen. Das Eis lag in der Eistruhe. Die stand im Gang eines Krankenhauses. Er selbst saß in einem Rollstuhl. „Der stand da so rum", sagt Stefan Lippert, „mir war langweilig, deshalb habe ich ihn mir geschnappt und bin losgefahren." Hin zur Eistruhe. Hoch war der Rand, tief saß Stefan Lippert. Er kam nicht ran an sein Eis. „Mist", dachte er.
Gut 15 Jahre ist das jetzt her, doch Lippert erinnert sich noch genau an das Gefühl von damals, als er wegen einer Operation in der Klinik war und den Rollstuhl ausprobierte. Dieses Gefühl, behindert zu sein. Sich nicht helfen zu können bei den einfachsten Dingen. Angeglotzt zu werden. Abhängig zu sein. Reiner Zufall, dass er dieses Gefühl erfahren hat, Lippert ist gesund, er braucht keinen Rollstuhl. „Doch es war mein Schlüsselerlebnis", sagt er. „Wer im Rollstuhl sitzt, ist nicht mehr die Person, die er mal war, auch wenn er gut von A nach B kommt. Immer aufschauen zu müssen, wenn man mit einem Gesunden redet, das ist eine Zumutung. Diese Erfahrung hat etwas bewirkt bei mir."
Diese Erfahrung hat den Produkt-Designer Lippert zu einem Geschäft gebracht, das bei Designern nicht gerade als erstrebenswert gilt: Medizin- und Rehabilitationstechnik. Rollstühle, Krankenhausbetten, Scooter, Geh- und Treppensteighilfen. Lippert, 43, sitzt im achten Stock eines gläsernen Büroturms, mitten im Herzen Stuttgarts. Sein 30-köpfiges Design- und Entwicklungsbüro Industrial PDD (IPDD) erwirtschaftet zwei Drittel des Umsatzes von knapp drei Millionen Euro mit solchen Dingen. IPDD-Reha-Produkte haben Designpreise bekommen und sind seit vielen Jahren erfolgreich auf dem Markt. Und sie haben IPDD dazu gebracht, vom reinen Auftragsdesigner zum Hersteller zu werden, der seit Kurzem mit dem selbst entwickelten Scooter „Luxx" ein eigenes Produkt anbietet.
Vielleicht liegt Lipperts Erfolg an dem, was man nicht auf der Hochschule lernt. Die Form soll der Funktion folgen – das ist inzwischen Allgemeingut. Dass die Form jedoch dem Gefühl folgen soll – das ist nicht selbstverständlich.
Als Lippert vor der Eistruhe saß, war er noch Designstudent und versuchte, sich hineinzufühlen in einen Rollstuhlfahrer. Er merkte, dass ein Rollstuhlfahrer ein Mensch ist, der eine oftmals eingeschränkte Beziehung hat zu dem, was ihn umgibt. Und ein Mensch, der ständig spüren muss, dass er behindert ist. Auch wenn er nicht möchte, dass seinetwegen ein Riesenaufwand betrieben wird, durch den er zum Sonderfall wird.
Die Kassenlogik: Rollstühle müssen zweckmäßig sein. Wie man in ihnen aussieht, ist egal
Lippert schaute sich auf dem Markt nach Lösungen um für das Problem, dass ein Rollstuhlfahrer nicht aufstehen kann und die Welt aus einer anderen Perspektive wahrnimmt. Er sah Rampen, er sah teure behindertengerechte Arbeitsplätze, er sah aufwendig gestaltete Küchen, deren Oberschränke und Arbeitsplatten sich absenken ließen. „Ich fand das völlig absurd", erinnert sich Lippert, „also habe ich den Spieß umgedreht."
Deshalb konstruierte er einen Rollstuhl mit einem Liftmechanismus, der den Fahrer per Hand oder mittels Elektrik stufenlos in die Höhe bugsieren kann. Ein Rollstuhl, mit dem jeder Fahrer problemlos im Kino, im Reisebüro, in der Werkstatt oder auf dem Bahnhof am Fahrkartenschalter über den Tresen schauen kann. Um den Lift herum entwarf er einen Rollstuhl in minimalistischer Form, der sich gut bewegen ließ und modern aussah, ein schickes Teil, in dem sich niemand schämen muss. Diesen Rollstuhl, den „Lift", gibt es seit 13 Jahren, er kostet 5000 Euro und ist inzwischen ein Klassiker.
Das ist eine Leistung, denn dieser Markt honoriert Innovationen und Design nicht. Rund 90 Prozent aller Rollstühle (Durchschnittspreis rund 1200 Euro) werden von den Krankenkassen finanziert – und für sie ist meist nur der Preis entscheidend. Seit April rekrutieren sie zudem ihre Lieferanten per Ausschreibung – das preislich günstigste Angebot soll den Zuschlag bekommen. Wie auf dem Pharmamarkt, wo ähnliche Regeln gelten, fallen die Preise und wachsen die Chancen für billige Importe. Hinzu kommt: Rollstühle gelten als „Hilfsmittel". Laut Hilfsmittelverzeichnis müssen sie „ausreichend und zweckmäßig" sein, sagt Norbert Stein, Geschäftsführer des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik. Sie müssen den Behinderten sicher von A nach B bringen, und mehr nicht. „Alles Weitere ist Zuzahlung", sagt Stein.
Allerdings verweigern Krankenkassen ihren Anteil mitunter auch dann, wenn ein Behinderter einen Großteil der Kosten selbst tragen würde – aus Angst vor Reparaturkosten, die bei einem aufwendigeren Rollstuhl mitunter höher ausfallen. Außerdem werden Rollstühle vielfach für einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren nur geleast – stirbt der Nutzer in dieser Zeit, fällt der Rollstuhl zurück an die Krankenkasse, die das benutzte Gefährt dann an den nächsten Versicherten weitergibt, der sich eben mit einem gebrauchten Stuhl zufriedengeben muss.
Ein weiteres Problem: Die Nachfrage nach Rollstühlen ist in Deutschland mit jährlich 75000 verkauften Exemplaren sehr klein, zehn Unternehmen teilen sich fast 90 Prozent des Marktes. Entwicklungskosten lassen sich nur schwer über hohe Stückzahlen gegenfinanzieren, und Fertigungsanlagen extra für neue Produkte zu verändern ist oft zu teuer. Das alles zusammengenommen führt zu Stagnation. „Design kostet", sagt Jan Wolter vom Branchenverband Spectaris. „Die Innovationen gehen zurück."
Auf der Strecke bleiben die Kunden. „Wer jünger ist, wünscht sich einen Rollstuhl, der einen selbstständig macht und auch pfiffig aussieht", sagt Irena Rietz, Vorsitzende des Netzwerks der Rollstuhlfahrer e.V. und selbst seit einer Rückenmarksblutung querschnittsgelähmt. „Also nicht so einen sprichwörtlichen AOK-Chopper mit 25 Kilogramm Gewicht. So ein Behinderungsmobil mit karierter Decke und hohen Seitenteilen." Allerdings täten sich viele Behinderte auch mit dem Gedanken schwer, eigenes Geld in einen Rollstuhl zu investieren, kritisiert Rietz. „Die Erwartungshaltung an die Kostenträger ist sehr ausgeprägt." Leider machten es auch die Produzenten ihren Kunden nicht leicht. „Finanzierungsmodelle wie beim Auto, und etwa Ratenzahlung, Kredite – das bieten die Hersteller nicht an."
Wer als Designer auf diesem Markt punkten will, braucht also Formen und Funktionen, an denen keine Krankenkasse vorbeikommt. Für die Menschen bereit sind, auch ihr eigenes Geld auf den Tisch zu blättern. Und er braucht Partner, die die Entwicklungskosten tragen. Lippert bekam seine Chance mit dem Lift bei Pro Activ, damals eine kleine Firma im nahen Dotternhausen, die sportliche Rollstühle herstellt.
„Wir hatten immer schon ein Auge für Design", sagt Geschäftsführer Jörg Sättele. Was daran liegt, dass er mit seinem Bruder ursprünglich Zylinder und Kurbelwellen für Motorradrenngespanne fräste, bis eines Tages ein befreundeter Cross-Fahrer verunglückte und die Brüder auf Rollstühle umschwenkten. Mit Lippert fanden die Sätteles einen Gleichgesinnten. „Den Hilfsmittelcharakter wollen wir möglichst klein fahren", sagt Sättele, „die Person soll im Vordergrund stehen."
Was das heißt, lässt sich gut an den Rollstühlen sehen, die Industrial PDD seitdem für Pro Activ entworfen hat. Der Nutzer soll sich mit dem Rollstuhl identifizieren. Und das kann nur gelingen, wenn man ihn als das betrachtet, was er ist: ein Mensch mit einer persönlichen Geschichte, die seinen Geschmack geprägt hat.
Bei Pro Activ sind die Kunden Menschen, die Geschwindigkeit lieben, etwa Fahrrad- oder Motorradfahrer nach einem Unfall. „Und Motorradfahrer sind technikaffin", sagt Thomas Hentges, Leiter Design bei Industrial PDD. „Das muss der Rollstuhl aufnehmen. Motorräder haben viele Frästeile, der Motor ist sichtbar, da wird nicht alles verkleidet. Sie wirken durch ihre Funktion." Die Rollstühle von IPDD wirken ähnlich. Die Verstellteile sind sichtbar aus gefrästem Aluminium geformt, eher verstärkt als versteckt. Die Bespeichung ähnelt mitunter der von extravaganten Mountainbikes. Nichts wird verniedlicht, es gibt keinen funktionslosen Gimmick. Die Teile wirken statisch und technisch, sind trotzdem beweglich und leicht. „Design ist nicht nur Verschönern", sagt Hentges. „Die Benutzung muss gewinnen."
Selbstverständlich bleibt ein solcher Rollstuhl ein Rollstuhl – aber er ist zugleich mehr: nicht nur ein Ding, das funktioniert, sondern Ausdruck einer Lebenshaltung. Also das, was jedes andere gestaltete Produkt heute auch sein soll, egal, ob Toaster, Auto oder Schrank. Doch gerade das ist eben das Ungewöhnliche auf dem Rehabilitationsmarkt: Einen Rollstuhl so zu entwerfen, dass er die Haltung seines Nutzers ausdrückt – das schafft nur, wer selbst eine Haltung hat. Wer nicht dem Stigma erliegt, mit dem Rollstuhlfahrer so oft zu kämpfen haben: das hilflose Mädchen, der bemitleidenswerte junge Mann. Stefan Lippert versorgt keine Kranken, er verschafft Menschen Mobilität. „Und Mobilität bedeutet das halbe Leben", sagt er. „Es ist ein Grunderfordernis in der Gesellschaft. Das soziale Leben vereinzelt uns immer mehr. Die Menschen müssen andere Menschen erreichen können, egal, ob sie nun alt sind oder sich ein Bein gebrochen haben. Unsere Produkte sollen einfach das Leben erleichtern."
Lippert macht keinen Unterschied zwischen Produkten für Gesunde und Behinderte. Wozu auch? Industrial PDD entwirft unter anderem Obstschalen, Fahrräder und Brillen. „Brillen sind eigentlich auch Rehabilitationsprodukte. Und mit Fahrrädern erweitert der Mensch seine Bewegungsmöglichkeiten. Beides wird heute als Accessoire betrachtet, als Mode. Wenn wir dasselbe mit den Rollstühlen erreichen, haben wir unser Ziel erreicht."
Der Designer hat seinen eigenen Begriff von Schönheit. „Schönheit", sagt Lippert, „liegt immer in der Person, die ein Produkt benutzt. Eine alte Frau etwa ist schön, wenn sie sicher und selbstständig wirkt. Ich möchte dieses positive Gefühl auslösen, dieses Zusammenspiel von Mensch und Umwelt. Dabei hilft ein gut designtes Produkt, das eben nicht aussieht wie das Gebrechen selbst."
Gutes Design ist nicht nur eine Frage von Formen und Farben. Es ist eine Frage des Denkens – und des genauen Beobachtens. Lippert hat Rollstuhlbasketball gespielt und war nach einer Stunde so fertig, dass er kaum mehr den Ball heben konnte. Er hat Hochachtung gewonnen, die verhindert, dass er Rollstuhlfahrern irgendeinen Kram anbietet. Er hat gesehen, wie sich andere Nutzer ständig die Hände kratzten, schmutzige Hände. Hat ihnen zugehört, wie sie über Ekzeme klagten, verursacht durch Steinchen und Straßendreck, den die Reifenprofile nach oben rissen. Er hat deshalb Rollstuhlreifen entwickelt, die an der Griffseite glatt waren und nur dort profiliert, wo die schräg gestellten Räder wirklich den Boden berühren.
Wer schöne Dinge herstellt, macht auf sich aufmerksam. Und hat deswegen beispielsweise keine Nachwuchssorgen
Medizin- und Rehabilitationstechnik – „angeblich unsexy Aufgaben ermöglichen große Freiräume", sagt Lippert. Neues könne man in Ruhe ausprobieren, zudem sei das Feld noch nicht wirklich bestellt. „Der Vorher-nachher-Effekt ist riesig. Wenn man das etwa mit Geschirr vergleicht – da sind die Entwicklungsschritte doch nur minimal."
Nun wächst der Markt. Seit Jahren sind IPDDs Auftraggeber in der Reha-Branche, Pro Activ und Alber, erfolgreich auf dem Markt. Alber setzt im schwäbischen Albstadt-Tailfingen 45 Millionen Euro jährlich als Spezialist für Zusatzantriebe um. Dort haben sich Lipperts Leute mit Treppensteighilfen und kleinen Zugmaschinen befasst. Für Albers Marketingleiter Bernd Engels ist Design nicht nur ein hübscher Zusatz. „Wir machen das wegen des Wettbewerbs. Über Schönheit ordnen die Kunden einem Produkt Qualitätseigenschaften zu. Außerdem prägt das Design unsere Marke. Design ist schlicht Markenstrategie. Wir wollen weg von ,ich brauche es‘ hin zu ,ich will es‘. Das ist wie beim Autokauf. Da wählen die Leute auch schicke Alu-Felgen. Ohne Design wird in fünf Jahren kaum ein Hersteller überleben."
Engels rechnet fest damit, dass die Krankenkassen künftig weniger bezahlen werden, die Rollstuhlfahrer also mehr selbst tragen müssen. Somit wandert die Kaufentscheidung von der Kasse zum Kunden – und der legt eben auch mehr Wert aufs Äußere. Wie schwer Schönheit wiegen kann, zeigt sich nicht nur am wachsenden Rollstuhl-Absatz. „Schönheit zieht Aufmerksamkeit auf sich", sagt Engels, der mit IPDDs Outdoor-Rollstuhl „Adventure" ein preisgekröntes Produkt im Portfolio hat. „Heute melden sich bessere Nachwuchskräfte bei uns als früher. Das ist wichtig beim heutigen Ingenieurmangel. Und wir hocken ja hier in der schwäbischen Diaspora. Das Design hat uns ins Scheinwerferlicht gerückt."
Der Erfolg ihrer Auftraggeber wirkt zurück auf die Designer von Industrial PDD. Nicht nur, weil sie Folgeaufträge bekommen. Sie haben sich einen guten Ruf erarbeitet. Was sie nun herauskatapultiert aus dem normalen Status als Auftragnehmer hin zu einem Unternehmen, das mit einem eigenen Produkt auf den Markt geht. Nur auf den ersten Blick wirkt diese Geschichte etwas wunderlich.
Vor etwa vier Jahren meldet sich die Firma Alber bei Stefan Lippert. Man habe da einen Russen, der im Westen jemanden suche, der ihm so etwas wie einen manntragenden Roboter entwickelt. Ein Ding, das rollen, Treppen steigen und den Nutzer vollständig aufrichten kann. Und das zudem deutlich wendiger ist als das, was es derzeit auf dem Markt gibt. Ob Lippert sich nicht darum kümmern wolle.
Es ist nicht irgendein Russe. Es ist der Moskauer Oligarch Oleg Boyko, »Forbes«-Liste Platz 664, geschätztes Privatvermögen 1,5 Milliarden Dollar. Boyko hat Bananen und Elektronik importiert, Banken und eine Luftfahrtgesellschaft betrieben. Heute verdient er Geld mit Spielkasinos unter anderem in Russland, Kasachstan, den USA und Lateinamerika. Boyko sitzt seit zehn Jahren im Rollstuhl, nach einem etwas mysteriösen Unfall in Monte Carlo. Alber ist auch in Russland bekannt, deshalb hat Boyko die Schwaben kontaktiert. Und landete so letztlich bei Lippert.
Der zögerte nicht. Es war die Chance für etwas wirklich Neues. Die Chance, die engen Grenzen des krankenkassengesteuerten „Erstattungsmarktes" zu verlassen und von der reinen Rehabilitation dorthin zu kommen, wo sich Lippert ohnehin sah: bei der Mobilität.
Zwei Jahre lang konstruierte Lippert mit Spezialisten der Universität St. Petersburg am Projekt „Kangaroo" herum. Dann stand zwar nicht der manntragende Roboter, doch das Konzept für einen Scooter, der, wie Lippert sagt, deutlich besser ist als das, was bisher auf dem Markt zu finden war. Lippert schaffte es, Boyko zu überzeugen: Der Oligarch investierte mehr als 2,5 Millionen Euro in die weitere Entwicklung.
Seit wenigen Monaten nun ist Stefan Lipperts neuer Scooter, der „Luxx", serienreif. Industrial PDD hat mit Pro Activ einen Hersteller gefunden und mit Switch Mobility eine von Boyko gehaltene Tochter gegründet, die das Fahrzeug vermarkten soll. „Ohne unsere Rollstühle", sagt Lippert, „wären wir nie so weit gekommen."
Scooter, das sind Elektrokarren, auf denen man gewöhnlich alte Leute durch die Straßen ruckeln sieht. „Massenware mit einer Tiefziehhaube drüber, verlutscht mit runden Beulen", so beschreibt Wolf Geibel das, was der Luxx eben nicht sein soll. Geibel ist Senior Designer bei Industrial PDD, er hat die Entwicklung des Fahrzeugs maßgeblich betreut. „Wir hingegen wollten Leichtigkeit, eine klare Struktur. Ältere legen Wert auf Design. Früher haben sie sich schließlich auch ein Auto als Statussymbol gekauft." Deshalb ist der Luxx kein verspieltes, leicht lächerliches Teil. Die Linien sind gerade, der Rahmen ist als Rahmen erkennbar. Obendrauf klemmt nicht so etwas wie ein klobiger Chefsessel, sondern eher eine Sitzschale, die trotzdem Komfort bietet.
Dank der Rollis hat sich das Designbüro zu einem Fahrzeugbauer weiterentwickelt
Vor allem aber kann der Luxx mehr als andere Scooter: Seine Hinterräder lassen sich schwenken, deshalb kann er parallel fahren und sich auf der Stelle drehen – weshalb man sich auf ihm in der eigenen Wohnung nicht verkeilt. Ein Gefährt für Innenräume, das zugleich straßentauglich ist und seinen Weg noch durch jeden vollgerammelten Supermarkt findet – das ist wirklich neu. Rückwärts fahren zu müssen, etwa aus einem engen Fahrstuhl, ist für viele ältere Menschen der Horror – mit dem wendigen Luxx ist auch dieses Problem lösbar.
Der Luxx hat aus Industrial PDD eine andere Firma gemacht. „Wir haben Fahrzeugentwicklung betrieben", sagt Geibel, „und das als Designer." Sie richteten sich eine Werkstatt zum Schrauben ein. Sie gingen zu Lieferanten und Werkzeugbauern und machten sich schlau über Materialstärken und Sandgussmöglichkeiten. Wie klein kann ein Teil sein, bevor es bricht? Designer wurden zu Technikern. „Man wächst rein in das Thema", sagt Geibel. Als sie nicht mehr weiterwussten, stellte Industrial PDD einen Elektroniker und zwei Ingenieure ein und verließ endgültig den Rahmen eines üblichen Designbüros.
Sie sind auf Messen gezogen, um zu schauen, ob sie richtig liegen. Auf einer der weltweit wichtigsten Messen für Rehabilitationstechnik, der Rehacare in Düsseldorf, bekamen sie den Innovationspreis. „Die Leute haben den Luxx gar nicht als Seniorenfahrzeug identifiziert", sagt Geibel, „allein wegen des Designs." Als sie ihre Testfahrten in der Stuttgarter Fußgängerzone machten, drehten sich die Leute um und fragten: „Darf ich auch mal?"
So haben sie gelernt, was drinsteckt in ihrem Luxx. Für Stefan Lippert schließt er die Lücke zwischen „Lifestyle-Mobilität wie Auto oder Flugzeug einerseits und dem Rollstuhl andererseits". Die Lösung für die erste und letzte Meile des Weges, mit bis zu 25 Kilometern pro Stunde. Günther Lohre, der Marketingverantwortliche bei Switch Mobility, nennt den Luxx ein „Null-Emissions-Teil für den Nahbereich, das nichts mit Krankheit zu tun hat, sondern Spaß macht".
Deshalb peilt er nicht nur den Reha-Markt an. Dort seien die Chancen für den 4500 bis 8000 Euro teuren Luxx bescheiden. Lohre hatte Anfragen von amerikanischen Golfplatzbetreibern, die mit dem Einsitzer mehr Kunden pro Tag übers Grün schleusen können. „Damit hätten wir wirklich nicht gerechnet", sagt Lohre. Nun bietet er eine Golf-Version an, mit Breitreifen und Golftaschenhalter.
Er denkt auch an den Verkehr in großen Fabrikhallen und Büros. „In Verwaltungsgebäuden kann man schließlich nicht mit dem Fahrrad fahren." Zudem ließen sich am Luxx problemlos Transportkörbe befestigen. Derzeit verhandelt Lohre mit Museen über einen Vermietservice für erschöpfte Besucher. Ein italienischer Bestattungsunternehmer aus Modena meldete sich, weil sein Friedhof so groß ist. Dann wären da noch die geschlossenen Seniorenwohngebiete weltweit, Bundesgartenschauen, Messehallen, Flughäfen und, und, und. Gespannt verfolgt Günther Lohre die Diskussionen um Feinstaub. „Für Autos gesperrte Innenstädte", sagt er lachend, „die wären für uns natürlich eine tolle Sache."
Noch ist das alles Fantasie, noch steht der Luxx lediglich in den Startlöchern. Lohre bewirbt ihn erst seit gut zwei Monaten. Der Luxx-Produzent Pro Activ hat den ersten Scooter gefertigt, drei weitere sind fest verkauft. Ein amerikanischer Großhändler will 400 Stück abnehmen. „Der Markt ist eng", sagt Günther Lohre, „aber 1000 verkaufte Luxxe im nächsten Jahr, das ist unser Ziel."
Für den Designer Stefan Lippert ist das Gefährt schon jetzt ein Erfolg. Es ist der Einstieg in einen Markt der Mobilität, der so vielversprechend ist, dass auch Autohersteller wie Toyota auf ihm experimentieren. Lippert hat das geschafft, weil er sich nicht zu fein ist für den Reha-Markt, der eigenen Gesetzen folgt. Weil er die Welt der Behinderten mit der Welt der Gesunden verknüpft. Weil er erkannt hat, dass diese Welten so unterschiedlich gar nicht sind. Schreibtischarbeiter machen heute im Schnitt zwischen 800 und 1400 Schritte am Tag, die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt mindestens 7000 Schritte. Zwei Drittel aller Erwachsenen in Westeuropa sind nach WHO-Angaben körperlich nicht ausreichend aktiv – Tendenz steigend. Die gesundheitlichen Folgen kann man sich leicht ausmalen. Von der Gehschwäche zur Behinderung ist es nur ein kleiner Schritt. --
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