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brand eins, Oktober 2008                                                                                                zurück zur Übersicht

Das Matroschka-Prinzip

Der Familienkonzern Freudenberg hat 306 Gesellschafter und 434 Gesellschaften. Und jede Menge Erfolg. Wie machen die das bloß?

Wolfram Freudenberg sieht nicht so aus, als verstünde er viel von Babyschnullern, gasgeschmierten Dichtungen, Fensterledern, Luftfiltern oder synthetischen Schmiermitteln. Der 67-Jährige mit der hohen Stirn lächelt fein und sagt über die Unternehmensgruppe, die seinen Namen trägt: "Ein dicker roter Faden mag von außen schwer erkennbar sein - es ist schon verblüffend, wie breit wir jetzt aufgestellt sind."

Seit 2005 ist Wolfram Freudenberg Vorsitzender des Gesellschafterausschusses des Konzerns mit Sitz in Weinheim an der Bergstraße. Die Freudenberg-Gruppe ist eines der größten und erstaunlichsten Familienunternehmen Deutschlands: Zuletzt machte sie 275 Millionen Euro Gewinn bei einem Jahresumsatz von 5,3 Milliarden Euro. Sie beschäftigt 34 000 Mitarbeiter in 434 Gesellschaften in 53 Ländern. Sie hat eine kaum überschaubare Produktpalette. Und sie ist im Besitz von 306 einzelnen Freudenbergs.

In einem solchen Unternehmen können gewaltige zentrifugale Kräfte wirken. Um zu verstehen, warum es den Freudenbergs nicht um die Ohren fliegt, hilft ein Blick auf den Clan-Chef. Wie er sich seine vorbereiteten Notizen zurechtlegt und sich dann doch von ihnen löst. Wie er ohne einen Anflug von Großspurigkeit redet, in diesem kargen Büro im Erdgeschoss eines nüchternen Zweckbaus auf dem Firmengelände. Wie er auf ein Blatt Papier mit gestochener Schrift drei Worte schreibt: Kapital, Führung, Werte. Darauf komme es in einem Familienunternehmen an, sagt er. "Bei uns herrscht eine goldene Regel: Erst kommt die Firma, dann die Familie, dann der Einzelne. Was zählt, ist allein Kompetenz. Egal, woher sie kommt." Deshalb ist Wolfram Freudenberg der Vorsitzende des Kontrollgremiums, dem Gesellschafterausschuss. Und nicht etwa Firmenchef. Diesen Posten hat seit elf Jahren mit Peter Bettermann der erste Manager inne, der nicht aus der Familie stammt. Und Wolfram Freudenberg ist der erste Clan-Chef, der zuvor nie im Unternehmen gearbeitet hat. Bevor er seinen Job in Weinheim übernahm, arbeitete er bei der Deutschen Bank, bei den Württembergischen Versicherungen und war Präsident der Börse Stuttgart.

Das Arrangement ist einer von vielen Gründen, warum Freudenberg nicht wie andere Familienunternehmen an internen Auseinandersetzungen scheitert. In einem solchen Konzern kommt es darauf an, zu erkennen und zu akzeptieren, wer was kann - und wer was nicht. Und auf eine feine Balance zwischen Tradition und Innovation, zwischen Vertrauen und Freiheit, um im Wettbewerb zu bestehen. "Der Markt gibt uns keinen BonusFoto: (c) Freudenberg & Co. KG als Familiengesellschaft", sagt Wolfram Freudenberg. "Wir sehen das ganz pragmatisch."

Dieser Pragmatismus hat aus einem einstmals kleinen Betrieb einen internationalen Mischkonzern gemacht: Was können wir, und was können wir daraus machen? Darum ging es stets. Die Weinheimer waren immer gut darin, Zufälle und Sachzwänge geschickt zu nutzen. Die Freudenberg'sche Produktpalette wirkt nur auf den ersten Blick konfus. Wer genauer hinschaut, erkennt die innere Logik.

Im weitverzweigten Konglomerat wirkt vieles wie zufällig entstanden. Aber das täuscht

Es begann mit Leder. Der Urvater Carl Johann Freudenberg übernahm 1849 eine Gerberei vor der Stadt Weinheim. Er machte gute Geschäfte mit Lack- und Satinleder. Bis der Erste Weltkrieg, Inflation und Wirtschaftskrise das Geschäft fast zum Erliegen brachten. Da kamen die sparsamen Unternehmer 1929 auf die Idee, aus Lederabfällen Manschetten zu machen und der Autoindustrie als Dichtungen anzubieten. Bereits drei Jahre später fabrizierten sie hitzebeständige Dichtungen aus Kautschuk - den Simmering, benannt nach dem Freudenberg-Ingenieur Walther Simmer.

Es war der erste Schritt hin zur Diversifikation - und die entscheidende Weichenstellung. Dichtungen sind heute das Hauptgeschäft. Stets kam eins zum anderen. Zunächst lernte man den Umgang mit Leder, dann mit Gummi und Kunstleder, woraus ein Geschäft mit Fußbodenbelägen und Vliesstoffen entstand, Letzteres das zweite große Standbein des heutigen Weltkonzerns. Aus Vliesstoffabfällen machten sie das Vileda-Fenstertuch (siehe brand eins 07/2008) - das erste Produkt, aus dem sich die Haushaltsproduktesparte entwickelte, die inzwischen mehr als 600 Millionen Euro jährlich umsetzt. Die Erfahrungen mit der Autoindustrie und Gummi führten Freudenberg zur Schwingungstechnik: Gummiteile dämpfen die Bewegungen von Motor und Karosserie. Motoren müssen geschmiert werden, auch solche Produkte liefert die Firma, natürlich abgestimmt auf die hauseigenen Gummiteile. Aktuell arbeitet das Unternehmen an Filtern, Dichtungen und Feuchtigkeitsreglern für Brennstoffzellen - eine Symbiose von Vliesstoff- und Dichtungstechnik.

Was hält diesen Konzern zusammen, der sich vom Ledergeschäft komplett getrennt hat und dessen Teile längst ihr Eigenleben führen?

Zunächst einmal die Erkenntnis, dass da kaum etwas ist, was Freudenberg zu einem Ganzen macht. "Ein Vileda-Putztuch hat heute nun wirklich nichts mehr mit Dichtungen zu tun", sagt Martin Stark, persönlich haftender Gesellschafter und Mitglied der dreiköpfigen Unternehmensleitung der Führungsgesellschaft. In dem verzweigten Organismus kann deshalb nicht von oben nach unten durchregiert werden. Versuchte die Führung das, scheiterte sie wohl ebenso wie das Politbüro der DDR. Dort wurde der Traum, alles kontrollieren und bestimmen zu können, bekanntlich zum Albtraum.

Nach außen dringt wenig. Vermutlich, weil die Freudenberger am liebsten mit sich selbst reden

Die Familienfirma macht das Gegenteil. Statt die Mitarbeiter mit diversen Direktiven zu gängeln, pflegt das Management einen kommunikativen Führungsstil. Jeder soll mit jedem reden, und die Entscheidungen sollen möglichst von denen getroffen werden, die sie auch praktisch umsetzen. Damit ähnelt der Konzern einem ständig summenden Bienenschwarm, der sich entsprechend den Gegebenheiten stets neu formiert.

Ständiger Austausch, gepaart mit klaren Zuständigkeiten - so hat sich Freudenberg in den vergangenen Jahrzehnten vom patriarchalisch geführten zum dezentral organisierten Familienkonzern gemausert. Schon 1995 spalteten die Freudenbergs ihre Stammfirma in selbstständige Teilkonzerne auf. "Produktentwicklung, Produktion, Märkte und Kunden, das ist alles Sache der Teilkonzerne", sagt Martin Stark, der vor vier Jahren vom Automobilzulieferer Hella kam. Die Führungsgesellschaft bestimmt über die Gesamtstrategie und das Portfolio und erledigt Querschnittsaufgaben.

In dieser Firma regiert die Vernunft - nicht selbstverständlich in Familienunternehmen

Eine gute Organisation nutzt wenig, wenn nicht die richtigen Leute an den richtigen Stellen sitzen. Bei Freudenberg war die Unternehmensführung bis 1971 Sache der Familie. Heute hat sie sich komplett zurückgezogen. Auch die Teilkonzerne werden von familienfremden Managern geführt. "Wir sind so schnell gewachsen", sagt der Clan-Chef. "Wir hatten gar nicht genug Talente in den eigenen Reihen. Wir brauchten das Wissen vom Markt."

Da ist er wieder, der typische Pragmatismus, der nichts anderes ist als Professionalität. Doch gerade die fällt Familienunternehmen oft schwer. Zu viele Gefühle vernebeln den Kopf. "Um Emotionen kontrollieren zu können, braucht es brutale Ehrlichkeit und Transparenz", sagt Martin Koehler, Senior Partner bei der Unternehmensberatung Boston Consulting. "Doch Familienunternehmen verzichten gern auf eine schmerzhafte, selbst auferlegte Fitnesskur. Und es gibt auch keinen Druck vom Kapitalmarkt. Dann kann die Last des Erfolges die Weiterentwicklung verhindern. Traditionelle Produktbereiche werden durchgeschleppt. Es wird nicht scharf gerechnet."

Bei Freudenberg wird scharf gerechnet, damit das Unternehmen den kommenden Generationen erhalten bleibt. "Das steht bei uns an erster Stelle", sagt der Clan-Chef. Der Konzern unterwirft sich dem Rating von Moody's und wendet den internationalen Rechnungslegungsstandard IFRS an - bei einer Umfrage der Stiftung Familienunternehmen unter deutschen Familienfirmen lehnten dagegen 83 Prozent der Befragten diesen strengen Standard ab. Man hat konzernweite Corporate-Governance-Regeln und veröffentlicht Halbjahresberichte. "Im Innenverhältnis funktionieren wir wie eine Aktiengesellschaft", sagt Wolfram Freudenberg, "nach außen wie eine Personengesellschaft."

Was nicht heißt, dass die Familie nichts zu sagen hätte. "Wir brauchen eine gute Balance zwischen Freiheit der Firmenleitung und Einfluss der Familie", sagt Wolfram Freudenberg und tippt auf das Wort Kapital. Immer mal wieder denke die Familie darüber nach, ihr Unternehmen in eine Kapitalgesellschaft umzuwandeln - und immer wieder entscheide sie sich dagegen. "Eine Personengesellschaft bindet die Familie stärker an das Unternehmen", sagt er und kommt zum Punkt Führung. Ganz wichtig sei ein "sehr guter Gesellschaftsvertrag. Alle wichtigen Entscheidungen müssen von Gesellschaftervertretern und Vorständen gemeinsam gefällt werden."

Große Investitionen, Akquisitionen, die Rekrutierung von Vorständen, alle strategischen Fragen also, sind auch Sache des Gesellschafterausschusses, des Kontrollgremiums, in dem die Familie die Mehrheit hat. "Da wird manchmal lange mit dem Management diskutiert", berichtet Freudenberg. "Aber am Ende muss eine Entscheidung fallen."

Eine heikle Angelegenheit. "In Familienunternehmen ist der Knackpunkt dort, wo Anteilseigner auf Manager treffen", sagt Martin Koehler von Boston Consulting. Streitereien innerhalb der Familie dürften auf keinen Fall die Unternehmensführung lähmen. Das werde leichter verhindert, wenn die Familie im entscheidenden Kontrollgremium nicht die Mehrheit halte. Zu oft würden solche Gremien mit sachfremden Problemen überfordert, an denen schon die Familie selbst scheiterte. Koehler kennt das aus seiner Beratungspraxis. "Da schicken dann die verschiedenen Stämme ihre Vertreter ins Aufsichtsgremium, womöglich noch im Rotationssystem. Damit aber ist nichts gelöst, der Streit landet nur in der Firma. Und das wirkt verheerend. Eine Familie muss mit einer Stimme sprechen."

Gar nicht so leicht, wenn die Familie aus 306 Anteilseignern besteht. Wolfram Freudenberg setzt deshalb auf klare Regeln und ist beim Punkt Werte angekommen: "Die sind der wichtigste Kitt zwischen allen."

Keiner der 306 Eigentümer ist übermächtig. Aber um alle wird sich gekümmert

Im Firmengrundgesetz ist festgeschrieben: Wir bleiben ein Familienunternehmen; Firmeninteressen gehen vor Einzelinteressen; die Firma darf keine Dividendenmaschine sein; Haftungsrisiken müssen klein gehalten werden; Geschäfte werden nur gemacht, wenn man in absehbarer Zeit Branchenerster oder -zweiter werden kann. Außerdem sind Rüstungsgeschäfte tabu, und technische Perfektion sowie verantwortliches Handeln gegenüber Mitarbeitern und Gesellschaft werden angestrebt. Diese Werte zu vermitteln ist die Aufgabe des Familienmanagers Wolfram Freudenberg. Und gemeinsame Regeln auszuhandeln, die das Unternehmen schützen, falls die Werte einmal nicht auf fruchtbaren Boden fallen.

Die Regeln legt der Gesellschaftsvertrag fest. Mitglieder der Unternehmensleitung werden von allen Gesellschaftern mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Anteile dürfen innerhalb der Familie verkauft werden - aber nur mit Genehmigung von Gesellschafterausschuss und Unternehmensleitung. Familie - das sind Blutsverwandte, Adoptivkinder und Ehepartner. Wer sich scheiden lässt, muss seine Anteile zurückgeben. Auch der potenzielle Hauptstreitpunkt innerhalb einer Unternehmerfamilie ist klar geregelt: Die jährliche Ausschüttung liegt bei knapp 20 Prozent des Konzerngewinns. Daran ist nicht zu rütteln, der aktuelle Vertrag gilt bis zum Jahr 2030.

"Stammesdenken gibt es nicht", sagt Wolfram Freudenberg. "Das hilft enorm. Dass wir so viele Gesellschafter sind, ist eher ein Vorteil, denn die Anteile der Einzelnen sind klein." Dass die Gesellschafter gegenüber ihren Managern an einem Strang ziehen, ist jedoch nicht nur eine Frage der Arithmetik. Sondern auch eines der ungeschriebenen Gesetze, die sich in 160 Jahren Firmengeschichte etabliert haben. "Eine eiserne Regel lautet: Kein Familienmitglied hat Anrecht auf eine Karriere in der Firma. Jeder muss sich denselben Anforderungen unterwerfen wie Familienfremde. Da kommt es schon vor, dass manch einer wieder aufgibt." Überhaupt sollte jeder einen Beruf haben, der ihn unabhängig macht vom Unternehmen. "Das wird auch gut durchgehalten." Und das wird auch immer wichtiger: Traditionell bekommen alle Sprösslinge von ihren Eltern Anteile vererbt - die allerdings von Generation zu Generation immer kleiner werden. Entsprechend reduzieren sich die jährlichen Ausschüttungen an die Einzelnen. Das Unternehmen als soziale Hängematte - das funktioniert nicht auf Dauer.

Trotzdem: 306 Gesellschafter, das sind im schlimmsten Fall 306 verschiedene Meinungen und Interessen. Jedes noch so ausgeklügelte Regelwerk kann zerreißen, wenn es nur genug Teilhaber gibt, die daran zerren. Diese Gefahr steigt, je weniger die Familienmitglieder vom Geschäft verstehen. Bei Freudenberg mit seinen Hunderten eigenverantwortlich organisierten Unterfirmen können sie schnell den Überblick verlieren. "Dezentralität bedeutet Kontrollverlust für die Familie", sagt Wolfram Freudenberg. "Deshalb brauchen wir Instrumente, um das aufzufangen. Wichtig ist Transparenz. Nur informierte Gesellschafter sind gute Gesellschafter. Unkenntnis gebiert Misstrauen. Beides zusammen ist das Saatgut der Zwietracht. Und mit Machtworten kommt man nicht weit."

Stattdessen wird auf Erziehung gesetzt. Was windelweich klingt, ist auch für den Unternehmensberater Martin Koehler entscheidend: "Die Sozialisierung der Eigentümer ist ungemein wichtig. Letztlich kommt es auf den Wertekodex an. Unternehmerfamilien brauchen etwas Höherwertiges, etwas, das alle einigt. Wer das schafft, handelt klug. Denn es vermeidet Streit schon im Vorfeld."

Die Freudenbergs haben ein pädagogisches System entwickelt, dessen Kern der regelmäßige Austausch ist. Einmal im Jahr vereinigt sich der Stamm zur großen Gesellschafterversammlung in Weinheim, mit üppigem Buffet und Wein vom eigenen Berg. Nicht nur die Anteilseigner treffen sich, sondern auch deren Partner und Kinder. "Beide Elternteile müssen Bescheid wissen", sagt Wolfram Freudenberg. "Schließlich erziehen sie ihre Kinder, die später einmal Eigentümer werden." Alle zwei Jahre finden Regionaltreffen für die Familienmitglieder in Deutschland, Großbritannien und in den Vereinigten Staaten statt. Außerdem sogenannte Info-Kreise, in denen die Familienmitglieder mit leitenden Angestellten über einzelne Geschäftsbereiche sprechen. Und schließlich sind da noch die Info-Veranstaltungen, die den Jüngeren vermitteln, was die Firma überhaupt macht und wie man eine Bilanz liest. Zweimal im Jahr bekommt der Stamm die nicht öffentliche "Freudenberg Familienzeitung", und alle haben jederzeit Zugriff auf das Intranet des Konzerns. Dort findet der Nachwuchs auch erfahrene Gesellschafter, die als Mentoren Wissen persönlich vermitteln.

"Am Ende aber geht es vor allem um Vertrauen", sagt Wolfram Freudenberg. "Deshalb spielen bei uns Emotionen eine so große Rolle, die Treffen, das Zusammensein." Was wie Gefühlsduselei klingt, ist kluge Betriebswirtschaft: Gefühle sind der Schmierstoff eines Unternehmens. Gibt es zu viel Reibung, frisst sich die Maschine fest.

Die große strategische Frage: Wie unabhängig werden von der Autoindustrie?

Das könnte sich gerade dieser Konzern nicht leisten. Das Unternehmen macht mehr als 40 Prozent seines Umsatzes mit der Automobilindustrie, die bekanntlich immensen Druck auf ihre Zulieferer ausübt.

Damit klarzukommen ist Sache der Unternehmensleitung. "Wir haben größere Freiheiten als in einer Aktiengesellschaft und damit mehr Verantwortung", konstatiert Martin Stark. "Wir müssen uns aber auch um die Familie kümmern. Wenn sie gut eingebunden ist, trägt sie unternehmerische Entscheidungen mit." So werden Blockaden vermieden, etwa beim Verkauf des Ledergeschäfts oder im vergangenen Jahr, als die in Weinheim beheimatete Bausystem-Sparte mit den Nora-Noppenböden abgestoßen wurde. Ein harter Schritt für die Gesellschafter, von denen viele in Weinheim leben. Doch Zahlen sind manchmal wichtiger als Gefühle, das haben sie gelernt. Auch mit der Tradition der Quersubventionierung haben sie gebrochen und damit mehr Dynamik ins Unternehmen gebracht, wie Martin Stark findet.

Andererseits verzichtet Freudenberg auf allzu viel Kontrolle. Bis heute gibt es keine zentrale Revisionsabteilung in der Unternehmensgruppe. Stattdessen verfügt jeder Teilkonzern über ein Audit Committee, in dem Finanzfachleute aus Führungsgesellschaft und Teilkonzernen die Buchhaltung gemeinsam überprüfen. Kollegen kontrollieren Kollegen.

Eigenständigkeit und Eigenverantwortung sind die grundlegenden Prinzipien. Martin Stark: "Es ist der kulturelle Klebstoff, der den diversifizierten Konzern zu einem Ganzen verknüpft. Wir operieren wenig mit Anweisungen von oben. Vielmehr wollen wir Netzwerke. Die Leute müssen sich treffen und austauschen können. Den Rest organisieren sie dann schon selbst."

Deutlich wird das beim Innovationsmanagement. Die Brutstätten für Ideen sind vor allem die Teilkonzerne. Aber alle Teilkonzerne müssen voneinander lernen. Deshalb treffen sich auch alle Fachleute - von den Technikvorständen bis hin zu den Spezialisten - regelmäßig und diskutieren große und kleine Fragen. Wohin entwickeln sich Hybridautos? Welche Energieformen sind im Kommen? Was können wir mit unserer Expertise bei Dichtungen und Filtern zum Zukunftsthema Wasserversorgung beitragen?

Dass beim regelmäßigen Austausch im Freudenberg-Kosmos nicht nur heiße Luft produziert wird, dafür sorgt die Eigenständigkeit der jeweiligen Unternehmen: Jedes ist selbst für seine Erfolge und Misserfolge verantwortlich.

Ein strukturelles und nicht leicht zu lösendes Problem ist allerdings die große Abhängigkeit von der Fahrzeugindustrie. Die Branche kriselt, und vieles deutet darauf hin, dass es künftig mehr Kleinwagen geben wird. Je weniger Zylinder ein Auto aber hat, umso weniger Dichtungen braucht es. Das ist nicht so schön für das Unternehmen. Für Ausgleich soll Freudenberg New Technologies (FNT) sorgen. FNT ist der konzernübergreifende Ideenpool. "Wir suchen Geschäftsideen im Konzern und machen auch ein Geschäft draus", sagt der Geschäftsführer Jörg Böcking. Der Maschinenbau-Ingenieur schrieb seine Dissertation über die Frage, wie sich verhindern lässt, dass Kirchtürme durch Glockenläuten beschädigt werden. Ihm darf keine Idee zu absurd erscheinen.

Bis vor zwei Jahren konnten die Mitarbeiter mit ihren Ideen nur zu ihren Chefs gehen, jetzt können sie auch bei Böcking anklopfen, oder sie platzieren ihre Idee auf einer speziellen Web-Seite. Ein Ideen-Scout in der jeweiligen Geschäftsgruppe ist der erste Filter. Wer schließlich durch ein Board aus Unternehmensleitung, FNT-Führung und zwei externen Forschungsfachleuten kommt, ist drin im Prozess.

Vom Angestellten zum Chef der eigenen Firma: In Weinheim ist's möglich

Solche Ideen-Börsen gibt es auch anderswo. Doch in diesem Konzern winken Tüftlern nicht Prämien und ein Schulterklopfen vom Chef. Aus Ideen sollen möglichst wieder eigenständige Firmen werden - mit dem Ideengeber als Chef. "Wenn Techniker mit ihrer eigenen Idee Geschäftsleute werden wollen, laufen die Projekte am besten", sagt Böcking. Aus zwei von derzeit sieben Projekten sind bereits neue Firmen entstanden. Sie beschäftigen sich mit Komponenten für Brennstoffzellen und mit speziellen Dichtungen aus Gummi, die sich direkt auf das Bauteil draufspritzen lassen.

Dazugehören und trotzdem sein eigenes Ding machen - das ist die Idee. Die Firma wird nicht immer fetter, sondern immer feingliedriger. Wie eine Matroschka, die nur die Hülle ist für viele sich ineinanderfügende Figürchen.

Nach dem gleichen Prinzip verfährt man auch bei Zukäufen. "Üblicherweise scheitern Käufe an der Integration in den Mutterkonzern und überzogenen Erwartungen an mögliche Synergien", sagt Martin Stark. Freudenberg aber integriere nicht auf Teufel komm raus. "Wir lassen unternehmerische Freiheit zu." Immer auf der Suche nach neuen Anwendungen für die Kernprodukte, kaufte der Konzern in den vergangenen Jahren mehrere Firmen aus der Medizintechniksparte und will zudem hinein ins Geschäft mit Öl und Gas, in Luftfahrt und Windkraft.

Grundsätzlich infrage kommen familiengeführte Firmen, gern auch kleine. Sie müssen nicht hochprofitabel sein, aber über gute Produkte verfügen oder auf vielversprechenden Märkten aktiv sein. Nach dem Kauf werden sie nicht zerschlagen, sondern bleiben als eigenständige Organisation im Firmenverbund erhalten. Wer die Leine so lang lässt, muss vertrauen können. Dass sich Vertrauen lohnen kann, haben die Freudenberger in ihrer Geschichte gelernt - schon bevor die schiere Größe des Unternehmens eine dezentrale Struktur erzwang.

In Weinheim pflegt man schon lange Beziehungen über die eigene Unternehmensgrenze hinweg. Holding und Teilkonzerne sind mit 35 Joint Ventures über eine Beteiligungsquote von 25 Prozent mit anderen Familienfirmen weltweit verbunden, hinzu kommen eine Unzahl kleinerer Kooperationen. Man produziert und erschließt mal gemeinsam, mal getrennt Märkte, und wenn es nötig ist, wird noch ein dritter Partner ins Boot geholt.

"Es geht nicht darum, eine Firma zu dominieren, sondern eine Vertrauensbasis zu schaffen", sagt Makoto Makabe. Auf seiner Visitenkarte steht "Leiter Internationale Koordination", er selbst nennt sich "Freudenbergs Außenminister". Der Deutsch-Japaner sorgt seit knapp zwei Jahren dafür, dass die fruchtbarste Kooperation blüht und gedeiht.

Pragmatische Linie: Wer etwas besser kann, erledigt es für den anderen mit

Die japanische Nippon Oil Seal Industry Co (NOK) kooperiert seit 50 Jahren mit Freudenberg, vor allem bei der Dichtungs- und Schwingungstechnik. Die Gemeinschaft gilt in Weinheim als Blaupause für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Anfangs lieferten die Deutschen technisches Wissen, die Japaner revanchierten sich später mit der Management-Methode Kaizen. Inzwischen läuft der Wissenstransfer ausgeglichen in beide Richtungen. Man kauft Werkstoffe gemeinsam ein und tauscht Rezepte für Gummimischungen. Es wird zwar nicht gemeinsam geforscht, aber wenn ein Partner nicht weiterkommt, hilft ihm der andere.

Freudenberg hält an NOK nur eine Minderheitsbeteiligung von knapp 23 Prozent. Trotzdem beruht die Kooperation auf dem Prinzip der wechselnden Führung: Wer etwas am besten kann, macht es für den anderen mit. Freudenberg und NOK sind mitunter kaum mehr zu unterscheiden. So produziert Freudenberg in Europa auch Produkte von NOK; Subfirmen sind über eine Vielzahl wechselseitiger Beteiligungen verflochten.

Wie ausgeklügelt und pragmatisch die Arbeitsteilung ist, zeigt das Verhältnis der beiden Partner zur Automobilindustrie. Global operierende Kunden bedienen NOK und Freudenberg gemeinsam. Japanische Kunden würden aber grundsätzlich von NOK betreut, europäische von Freudenberg, referiert Makabe. Japaner kauften nun einmal am liebsten von Landsleuten, und auch die Westler blieben gern in ihrem Kulturkreis.

Der gemeinsame Nutzen für beide Konzerne: Dank der Kooperation vergrößert sich der gemeinsame Markt immens -und fast ohne Risiko. Beide Unternehmen verkaufen nicht nur die Produkte des jeweils anderen Unternehmens, sondern betreiben auch gemeinsame Werke. Weil die ausgelastet werden müssen, erledigt sich auch elegant die Frage nach Mein und Dein. Auf dem amerikanischen Markt und in China treten NOK und Freudenberg als Gemeinschaftsunternehmen auf. In den USA haben die Freudenberger die Führung, in China ist es die NOK. "Über die jeweilige Führung wird pragmatisch entschieden", sagt Makoto Makabe. "Und wenn das nicht gleich klappt, ja dann muss man eben miteinander reden. Die Machtfrage darf man nicht stellen."

Reden statt anweisen. Konsens suchen statt Macht ausüben. Darauf vertrauen, dass die anderen schon ihr Bestes geben werden. Dafür gibt es kein Schema, das ist eine Frage der Kultur. Eine Kultur, die gepflegt werden will.

Wie so oft, entscheidet sich der Erfolg bei Freudenberg auch hier bereits im Kleinen. Statt groß über Kooperationen zu schwadronieren, erklärt Makabe den Mitarbeitern in zweitägigen Seminaren, wie die Japaner ticken. Er blättert durch seinen Seminarordner. "Die Deutschen müssen merken, dass sie die Welt durch eine Brille sehen - nämlich ihre eigene. , Ich' ist bei ihnen ganz wichtig, beim Japaner aber zählt das , Wir'. Die Deutschen lieben Logik, aber die gilt bei den Japanern als Haarspalterei. Zumindest verstehen sie darunter oft das Gegenteil dessen, was ein deutscher Kollege meint."

Makabe spielt virtuos mit den beiden so verschiedenen Kulturen. Ihn rufen die Kollegen an, wenn sie an den Japanern verzweifeln: "Wer sich nicht auskennt, macht sich eben schnell gegenseitig wahnsinnig."

400 Mitarbeiter hat Makoto Makabe schon trainiert. "Sie lernen mit der Zeit", sagt er. Nun soll das Wissen durchsickern. "Wir bauen unser Kulturnetzwerk aus und holen Nachwuchskräfte dazu, die das Netz als Knotenpunkte lebendig halten. So etwas kann nicht von oben verordnet werden. Am Ende des Tages müssen die Leute in der Lage sein, es selber zu machen."

Aber das sind sie bei Freudenberg ohnehin gewohnt. --

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