brand eins, Juli 2009 zurück zur Übersicht
Es ist ein Kampf. Auch mit mir selbst.
Marion Krämer ringt an jedem Arbeitstag um ihre Balance. Denn an jedem Tag wird sie angepöbelt, angegriffen, beschimpft. Marion Krämer ist Zugbegleiterin im Regionalverkehr.
-"Menschlich gesehen sind Sie für mich ein Arschloch."
Das ist nicht unbedingt ein Satz, den man von einer Zugbegleiterin der Deutschen Bahn hören möchte. Doch dieser Fahrgast hatte einfach nicht aufgehört. Der Zug hatte Verspätung, der Mann schimpfte und meckerte pausenlos, noch auf dem Bahnsteig, als er sein Ziel erreicht hatte. Irgendwann zog Marion Krämer* die Uniformjacke aus und sagte den Satz. "Das war einfach notwendig", erinnert sie sich, "ich habe es für mich selbst getan."
Fette Sau. Nazischlampe. Alte Fregatte. Deutsche Hure. Krämer, deinen Namen merke ich mir, pass gut auf deine Kinder auf! Du hattest wohl schlechten Sex letzte Nacht, du blöde Kuh. Das sind Worte und Sätze, die Marion Krämer jeden Tag aushalten muss. Manchmal scheint es, als brächen in Zügen alle Dämme menschlichen Anstands. Die hässliche Flut ergießt sich über die Zugbegleiterin. Daran nicht zu zerbrechen, ausgeglichen zu bleiben, körperlich und seelisch, ist eine gewaltige Aufgabe.
Marion Krämer fährt seit acht Jahren im Regionalverkehr in Nordrhein-Westfalen. Sie kontrolliert Fahrkarten, verkaufen darf sie die Tickets schon seit drei Jahren nicht mehr. Sie kämpft mit Schwarzfahrern, Pöblern, mit der Arroganz, die sich in schlecht gelaunten Gesichtern zeigt. Mit blöden Sprüchen, wenn sie eine Bahncard sehen will. Wenn sie einfach ihre Arbeit macht. "Der Zug hat sieben Minuten Verspätung? Dann können Sie ja in sieben Minuten wiederkommen." Und doch sagt Marion Krämer: "Ich brauche den Fahrdienst, ich will nicht aufhören damit."
Anfangs hatte sie ihren Kollegen nicht geglaubt. Sie hatte gedacht, sie könne im Zug so sein, wie sie wirklich ist. Locker, emotional. Heute sagt sie: "Es stimmt einfach nicht, dass man eine gute Stimmung erzeugen kann. Ich will nicht mehr nett sein. Wenn ich mir Gefühle gestatte, läuft die Sache aus dem Ruder, und ich werde verletzlicher. 40 Euro Strafe für Schwarzfahrer sind kein Spaß. Wenn ich dabei lächle, würde das die Leute noch aggressiver machen." Und sie hat schnell begriffen: "Ich darf mir nicht alles bieten lassen."
Zugbegleiter sind die menschlichen Prellböcke des Eisenbahnverkehrs. Verspätungen, Tarifdschungel, bis vor Kurzem Hartmut Mehdorn - alles, was Ärger macht, wird an ihnen abreagiert. "Zwei Jahre lang bin ich durch das Tal der Tränen gegangen", sagt Krämer, "heute habe ich einen dicken Panzer. Ich habe erst lernen müssen, wie die Menschen miteinander umgehen." Ihre Waffe ist ihr Mundwerk. Abends beim Bügeln oder Putzen hat sie über die Tage nachgedacht und sich mit der Zeit einen Sprüchekasten gebaut, aus dem sie je nach Situation Schubladen ziehen kann. So wie bei den drei bekifften, pöbelnden Schwarzfahrern, die sie rausschmeißt und die ihr auf dem Bahnsteig die nackten Hintern zeigen. "Da habe ich aber schon schönere gesehen", schickt sie ihnen hinterher.
Im Regionalverkehr Nordrhein-Westfalens arbeiten 850 Zugbegleiter. Im Jahr 2008 meldeten sie ihren Dienststellen 176 tätliche Übergriffe. Von allen Übergriffen in den Zügen galten allein 6,6 Prozent dem Personal. Zugbegleiter arbeiten oft allein. Auch Marion Krämer hatte schon Messer vorm Gesicht, neulich erst hat jemand versucht, sie zu vergewaltigen. Zwei Mitreisende haben sie gerettet, panisch schloss sie sich in einem Abteil ein. Und doch, sagt Marion Krämer, Aggressionen seien nicht das Schlimmste. Die könne sie sich erklären. Darüber ärgere sie sich höchstens. Darauf könne sie sich vorbereiten. Sie trägt schon lange kein Namensschild mehr an ihrer Uniform. Die Bahn bietet Deeskalationstrainings an, und wenn ihr der Bauch sagt: "Von denen dort halte dich lieber fern", hält sie sich dran. Wenn jemand sie anschreit, schreit sie mitunter genauso laut zurück. "Dann merken die Leute mal, wie sie mit mir umgehen." Das tut dann gut.
Viel schlimmer sei die Arroganz, die sich weniger in Worten als in Blicken und Gesten äußert. Die hochgezogenen Augenbrauen, wenn sie von einem Soldaten den Truppenausweis sehen möchte. Der im Wortsinn zugedrehte Rücken der Berufspendler. Die "Armani-Typen", die ihr mit dem Rechtsanwalt drohen. Die Leute, die ihre Bahncard so tief halten, dass sie sich bücken muss. "Arroganz kann man nicht mit Argumenten oder einem flotten Spruch kontern", sagt Krämer, "sondern nur mit Anmache. Aber ich will nicht so sein wie die."
Zwei Tafeln Schokolade als Belohnung für die ertragenen Demütigungen eines Arbeitstages
Schmal ist der Grat zwischen Ärger und Verletztsein. "Dass die Leute mich und meinen Beruf nicht achten, das schlägt wirklich rein", sagt sie. "Aber so ist das ja oft in Deutschland. Da verstehen die Leute unter Service nicht, dass ihnen jemand hilft. Sie meinen, sie könnten auch noch ihren ganzen Frust abladen. Und wenn man sich wehrt, sagen die noch: , Na und - hätten Sie eben was Anständiges gelernt.' Alte Fregatte, fette Sau - wenn das dann noch dazukommt, hält sich Marion Krämer irgendwo fest, oft an dem fingerlangen, schmalen Kreuz, das sie um den Hals trägt, damit sie nicht die Faust ballt. Mitunter flüchtet sie sich zum Weinen in den leeren Triebwagenkopf am Zugende. Am Abend isst sie dann zwei Tafeln Schokolade. Oder sie setzt sich in ihren Lieblingsblumenladen mit Café, atmet die süßen Düfte ein. Hört zu Hause gregorianische Gesänge.
Stabilität bedeutet für sie, "nicht auf der Psychocouch" zu landen. Den Beruf bis zur Rente durchzuhalten, noch Zeit und Energie für die Kinder zu haben.
Es scheint nahezu ein Wunder zu sein, dass sie bei all dem ihre Arbeit jeden Tag wieder gewissenhaft macht. Sie könnte kulanter sein, offensichtliche Lügen akzeptieren, schwierige Fahrgäste von vornherein übersehen. Doch das ist nicht ihr Ding. "Ich mag es nicht, wenn man sich so durchs Leben mogelt", sagt Marion Krämer. "Ist das Leben denn leichter, nur weil man es sich leichter macht? Es wäre für mich nicht gut, ich würde oberflächlicher, auch im Privaten, und das will ich nicht. Ich will nicht kapitulieren. Natürlich kann ich mich nicht immer durchsetzen, oder ich gehe einer Situation aus dem Weg, wenn ich einfach nicht mehr kann. Aber das gehört zum Stabilbleiben: auch einmal verlieren können."
Vielleicht kann sie das so gut, weil sie schon so viel gewonnen hat in ihrem Leben. Sie ist 50 Jahre alt, hat ihre zwei Kinder allein erzogen. Sie hat Frankfurt an der Oder hinter sich gelassen, wo sie 18 Jahre lang in der Entwicklungsabteilung eines großen Leiterplattenherstellers arbeitete, bis der ein paar Tausend Mitarbeiter rauswarf. Wo sie sich danach mit Putzen und Zeitungaustragen durchschlug. Wo sie schließlich einen Kiosk kaufte und nach sechs Jahren vier Kioske betrieb. Bis sie im Jahr 2000 mit ihren Kindern in eine Kleinstadt bei Köln zog, weil die Kinder in der alten Heimat keine Arbeit fanden und die Familie unbedingt zusammenbleiben sollte. Ihre Nichte arbeitete damals bei der Bahn, das erleichterte den Einstieg in ein Callcenter. Das machte ein Jahr später mit billigeren Studenten weiter, weshalb Marion Krämer 2001 auf Zugbegleiterin umschulte.
Eine gute Tat pro Fahrt und eigene Regeln, um nicht zu werden wie die, die immer nur meckern
Im Zug spiegele sich die Gesellschaft und ihre Entwicklung. Vereinzelung, Verdrängungskampf, Verarmung - all das, sagt Marion Krämer, spüre sie täglich. Weil die Fahrgäste immer rüder würden. "Im Zug zeigen sich die Menschen, wie sie wirklich sind." Haben sie eine Fahrkarte, haben sie einen Anspruch. Haben sie keine, kommt es immer häufiger zu Auseinandersetzungen. Früher, sagt Marion Krämer, musste sie im Monat vielleicht drei "Fahrpreisnacherhebungen" schreiben. Heute sind es schon fünf auf einer einstündigen Fahrt von Köln nach Aachen. Sie fährt täglich bis zu zwölf Stunden. "Das können Sie sich ja dann hochrechnen. Wie soll ich da kulant sein?"
Die Zugbegleiterin weiß jeden Tag, dass er Ärger und Verletzungen bringen wird. Zu oft gilt sie den Reisenden als bloßer Büttel in Blau. Vor allem im Ruhrgebiet, dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, sei der Ton ätzend, sagt sie. "Da bin ich froh, wenn ich durch bin." Sie kann sich ihre Strecken nicht aussuchen, und nicht jeden Tag geht es durch die Kleinstädte Richtung Koblenz, Einfamilienhausgegenden, wo, wie sie meint, die Leute eher noch Werte haben, weil sie es ja sonst nie zu einem Haus gebracht hätten. Jeden Tag versucht sie, "vom Null-Level" zu starten. "Ich hoffe jedes Mal, dass alle ihre Fahrkarten haben."
Zwei Stunden vor Dienstantritt geht sie nicht mehr ans Telefon, fährt immer so zur Arbeit, dass sie noch 20 Minuten Zeit hat, bevor sie zusteigt. Dann trinkt sie einen Kaffee auf dem Bahnsteig, raucht eine Zigarette, schaut sich die Fahrgäste an, lauscht manchmal ihren Gesprächen. Vielleicht geht es darum, in ihnen nicht nur potenzielle Aggressoren, sondern Menschen zu erkennen. "Ich mag Menschen", sagt sie. "Ich wünsche mir sehr, dass die Leute irgendwann verstehen, dass wir nun mal keine Modelleisenbahn sind."
Manchmal erlebt sie auch Erfreuliches. Wenn Fahrgäste Courage zeigen und ihr bei einem Streit beispringen. "Courage ist überhaupt das Wichtigste." Wenn ein Fahrgast dankbar ist, nachdem sie auf einem Bahnhof eine Pinkelpause organisiert hat, weil alle Zugtoiletten verstopft sind. Sie liebt das Unterwegssein, die Freiheit in ihren Entscheidungen und "dieses System Bahn mit seiner ganzen Logistik". Sie schafft sich positive Erlebnisse. "Mein Prinzip ist: auf jeder Fahrt mindestens eine gute Tat." Den Kinderwagen herausheben. Einem Rollstuhlfahrer helfen. Einen fehlenden Erster-Klasse-Zuschlag plus 40 Euro Strafgeld durchgehen lassen, wenn sich wirklich mal jemand nur in der Tür geirrt hat. "Dumm ist nur, dass mir die renitenten Fahrgäste kaum Zeit lassen für die netten. Und die gibt es ja nun auch."
Sie kann wenig an dem ändern, was ihre Fahrgäste zu unmöglichen Menschen macht. Sie kann nur daran arbeiten, nicht selbst ein unmöglicher Mensch zu werden. "Es ist ein Kampf", sagt Marion Krämer, "und immer ist es auch ein Kampf mit mir selbst." Nicht alles persönlich nehmen. Nicht auch unter die Gürtellinie gehen. Den Blick für die schönen Dinge behalten.
Es klingt paradox, aber es ist auch gerade dieser Kampf, der Marion Krämer aufrecht hält. "Irgendwie brauche ich das", sagt sie, "denn ich habe gemerkt, dass ich daran wachse." Sie habe sich doch sehr verändert im Laufe der vergangenen Jahre, erzählt sie. "Früher hätte ich mich nie allein in ein Café gesetzt, heute ist das selbstverständlich. Wenn ich aufs Amt muss, lasse ich mir nicht mehr alles bieten. Und dass ich nun schon lange Single bin, ist für mich jetzt auch in Ordnung." Sie skatet und spielt Tennis, springt Bungee, hat das Fernsehen aufgegeben und das Lesen entdeckt. "Ich will einfach alles besser verstehen. Das ist gut. Und das liegt auch an meinem Beruf. Da kann er schließlich nicht verkehrt sein für mich, oder?"
Was sie freilich nicht als Freifahrtschein für schlechtes Benehmen verstanden wissen will.-
* Name geändert
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